Gefitinib

Gefitinib (Iressa®) wird zur palliativen Behandlung des fortgeschrittenen nicht-kleinzelligen Bronchuskarzinoms empfohlen.

Chemie/Pharmakologie

Wachstum und Differenzierung von Zellen werden durch den epidermalen Wachstumsfaktor und andere Liganden reguliert, die sich an einen spezifischen Rezeptor an der Zelloberfläche binden («epidermal growth factor receptor» = EGF-Rezeptor). Am intrazellulären Teil des EGF-Rezeptors befindet sich eine Tyrosinkinase, deren Aktivierung eine Phosphorylierung in Gang setzt, was ein Signal für die Zellproliferation bedeutet.

Bei vielen epithelialen Tumoren findet sich eine verstärkte Expression des EGF-Rezeptors; beim nicht-kleinzelligen Bronchuskarzinom trifft dies auf 80% der Plattenepithelkarzinome und auf 50% der Adenokarzinome und der grosszelligen Karzinome zu.

Gefitinib, ein Anilinchinazolin, hemmt selektiv die zum EGFRezeptor gehörende Tyrosinkinase, indem es mit Adenosintriphosphat (ATP) um die Bindung an dieses Enzym konkurriert. Dadurch wird die Zellproliferation, Angiogenese und Metastasierung gebremst sowie die Apoptose gefördert.(1,2) Möglicherweise wirkt Gefinitib vor allem bei derjenigen Untergruppe nicht-kleinzelliger Bronchuskarzinome, bei denen die Tumorzellen eine bestimmte Mutation des EGF-Rezeptors aufweisen.(3,4)

Pharmakokinetik

Die Resorption von Gefinitib aus dem Magen-Darm-Trakt erfolgt langsam, so dass Plasma-Spitzenspiegel erst nach 3 bis 7 Stunden erreicht sind. Die biologische Verfügbarkeit beträgt 60%. Gefitinib wird in der Leber über das Zytochrom CYP3A4 abgebaut. Es sind fünf Metaboliten identifiziert; keiner davon trägt wesentlich zur pharmakologischen Wirkung bei. Die Ausscheidung findet grösstenteils über den Stuhl statt. Die Plasmahalbwertszeit beträgt durchschnittlich 48 Stunden. Eine mittelgradige Leberinsuffizienz scheint die Pharmakokinetik von Gefitinib nicht nennenswert zu verändern.(5)

Klinische Studien

Zum Einsatzgebiet von Gefitinib – dem fortgeschrittenen und bereits mit Zytostatika behandelten nicht-kleinzelligen Bronchuskarzinom – liegen die Ergebnisse von zwei Doppelblindstudien vor, in denen zwei verschiedene Dosen, 250 und 500 mg/Tag, miteinander verglichen wurden (ohne Kontrollgruppen). Beide Studien befassten sich mit Personen, bei denen ein lokal ausgedehnter oder ein metastasierender Tumor vorlag und eine oder mehrere Chemotherapien mit einem Platinderivat oder mit Docetaxel (Taxotere®) vorangegangen waren. Da zwischen den beiden Dosen kein signifikanter Unterschied zu verzeichnen war, lassen sich die Ergebnisse zusammengefasst darstellen.

In der einen Studie konnte nach einer medianen Behandlungsdauer von 8 Wochen bei keiner der 216 Personen ein komplettes Ansprechen (Verschwinden des Tumors) beobachtet werden; bei 10% der Behandelten sprach der Tumor partiell auf Gefitinib an (mindestens 50%ige Abnahme der Tumorgrösse) und bei 29% stabilisierte sich die Krankheit (weder Zu- noch Abnahme der Tumorgrösse). 39% der Behandelten berichteten von einer Beschwerdelinderung (definiert als Besserung um mindestens zwei Punkte auf einer von 0 bis 28 Punkte reichenden Skala, mit der Symptome wie zum Beispiel Atembeschwerden, Husten, Appetitverlust oder Gewichtsabnahme erfasst werden). Die mediane Überlebenszeit betrug 7 Monate, die Einjahres-Überlebenswahrscheinlichkeit 25%.(6)

Bei der anderen Studie, die 208 Personen zählte, waren die Resultate etwas besser, bewegten sich aber – mit Ausnahme der Ansprechrate, die bei 18% lag – in denselben Grössenordnungen. (7) An beiden Studien wird unter anderem kritisiert, dass ein überproportional hoher Anteil an Adenokarzinomen einbezogen worden ist, dem am langsamsten wachsenden Tumortyp.

Bei der Erstbehandlung des nicht-kleinzelligen Bronchuskarzinoms kommt Gefitinib keine Bedeutung zu, wie zwei grosse Doppelblindstudien erkennen lassen. Jeweils über 1000 Patienten und Patientinnen mit einem fortgeschrittenen Tumor, bei denen noch keine Chemotherapie durchgeführt worden war, behandelte man mit einem gängigen Schema, entweder mit Cisplatin (Platinol® u.a.) plus Gemcitabin (Gemzar®)(8) oder mit Carboplatin (Paraplatin® u.a.) plus Paclitaxel (Taxol®).(9) Dieser Behandlung wurde Gefitinib (250 oder 500 mg täglich) oder Placebo hinzugefügt. Zwischen den drei Gruppen ergaben sich keine signifikanten Unterschiede. In den Placebo-Gruppen verlief die Krankheit sogar eher langsamer als in den Gefitinib-Gruppen. In den beiden Studien unterschieden sich einzig die Ansprechraten; die übrigen, relevanteren Grössen waren ähnlich: so betrug das progressionsfreie Intervall im Median 4,6 bis 6,0 Monate, die Überlebenszeit 8,7 bis 10,9 Monate und die Einjahres-Überlebensrate 37 bis 44%.

Unerwünschte Wirkungen

ARund die Hälfte der mit Gefitinib Behandelten muss mit Durchfall rechnen; andere gastrointestinale Nebenwirkungen sind Übelkeit und Erbrechen sowie ein Anstieg der Leberwerte. Ebenfalls sehr häufig treten Hautreaktionen wie Exantheme, akneartige Veränderungen, Hauttrockenheit und Juckreiz auf. Auch über ophthalmologische Probleme wird berichtet (Sehstörungen, Konjunktivitis, Kornea-Erosionen u.a.). Seltene Nebenwirkungen sind Urtikaria, Angioödem, Erythema multiforme und toxische epidermale Nekrolyse und Arthralgien. Gemäss experimentellen Untersuchungen kann Gefitinib die kardiale Repolarisation verzögern (QT-Verlängerung).

In einer Häufigkeit von 1 bis 2% beobachtete man interstitielle Lungenveränderungen, die in rund einem Drittel tödlich endeten. Dies weist darauf hin, dass womöglich auch physiologische Reparaturvorgänge durch Gefitinib beeinträchtigt werden.

Interaktionen

CYP3A4-Hemmer und -Induktoren können zu ausgeprägten Veränderungen der Gefitinib-Konzentrationen führen. Gefinitib hat eine leichte hemmende Wirkung auf CYP2C19 und CYP2D6, was zum Beispiel bei Metoprolol (Lopresor® u.a.), einem CYP2D6-Substrat, einen leichten Anstieg der Plasmaspiegel bewirkt.

Zusammen mit oralen Antikoagulantien ist eine regelmässige INR-Kontrolle angezeigt. Substanzen, die den pH-Wert im Magen heraufsetzen – Protonenpumpenhemmer, H2-Rezeptorenblocker, Antazida – können die Resorption von Gefitinib herabsetzen. Vorsicht ist angezeigt bei der gleichzeitigen Verabreichung von anderen Substanzen, die das QT-Intervall verlängern können.

Dosierung, Verabreichung, Kosten

Gefitinib (Iressa®) wird als Tabletten zu 250 mg angeboten, was der empfohlenen Tagesdosis entspricht. Es ist zugelassen bei erwachsenen Personen mit nicht-kleinzelligem Bronchuskarzinom, bei denen bereits zwei verschiedene Chemotherapien erfolgt sind (üblicherweise eine Erst-Chemotherapie mit einem Platinderivat und eine Zweit-Chemotherapie mit Docetaxel). Falls nach vierwöchiger Verabreichung kein Therapieerfolg messbar ist, sollte Gefitinib gestoppt werden. Eine akute Verschlechterung pulmonaler Symptome (z.B. Dyspnoe) sollte den Verdacht auf eine interstitielle Pneumopathie erwecken. Bei Personen mit manifester Leberkrankheit (z.B. Lebermetastasierung) ist bei der Anwendung von Gefitinib besondere Vorsicht geboten.

Im Tierversuch hat sich Gefitinib als embryo- bzw. fetotoxisch erwiesen und verbietet sich deshalb in der Schwangerschaft. Auch in der Stillzeit ist Gefitinib kontraindiziert. Gefinitib ist nicht kassenzulässig. Die Behandlung mit 1 Tablette täglich kostet etwas mehr als 3000 Franken monatlich.

Kommentar

Das Konzept, über eine Hemmung einer Tyrosinkinase intrazelluläre Steuerungsprozesse zu stören, hat sich bei Imatinib (Glivec®) und der chronisch-myeloischen Leukämie als erfolgreich erwiesen. Es leuchtet ein, dass von einem solchen Konzept eine wissenschaftliche Faszination ohnegleichen ausgeht. Im Falle von Gefitinib ist es jedoch bisher nicht gelungen, daraus überzeugende klinische Erfolge abzuleiten.

Einerseits ist die Wirksamkeit von Gefitinib beim nichtkleinzelligen Bronchuskarzinom sehr dürftig belegt. Bei der Erstbehandlung als Zusatz zu einer Chemotherapie mit einem Platinderivat bietet Gefinitib keinerlei Vorteil, und bei der Drittbehandlung, wofür Gefinitib offiziell zugelassen ist, basiert der postulierte Nutzen lediglich auf unkontrollierten Daten. Warum in den entsprechenden Studien darauf verzichtet wurde, randomisiert Kontrollgruppen mit «best supportive care» mitzuführen, ist wenig verständlich. So wurde eine relativ einfache Möglichkeit, die Aussagekraft der Studien zu verbessern, verpasst.

Andererseits ist man besorgt über die relativ hohe Zahl von Todesfällen infolge interstitieller Lungenveränderungen, die unter Gefitinib vorgekommen sind. Dass Gefitinib trotz offensichtlicher Mängel die uneingeschränkte Zulassung erhalten hat, lässt sich als ordentliches Mass an behördlicher Grosszügigkeit interpretieren.

Standpunkte und Meinungen

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Gefitinib (7. Oktober 2004)
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pharma-kritik, 26/No. 8
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