Was wissen wir über die Nebenwirkungen der Medikamente, die wir verschreiben? (kein Passwort)

Vor der Zulassung

Im Rahmen des Zulassungsverfahrens werden die vom Hersteller eingereichten Studienunterlagen zur pharmazeutischen Qualität, therapeutischen Wirksamkeit und Unbedenklichkeit eines neuen Arzneimittels durch Arzneimittelbehörden überprüft. Mit der Zulassung wird ein grundsätzlich positives Nutzen-Schaden-Verhältnis bescheinigt und die Verkehrsfähigkeit erteilt.

Die Zulassungsstudien sind nicht primär zur Aufdeckung von Nebenwirkungen (unerwünschten Wirkungen, UW) konzipiert; sie dienen vielmehr dem Nachweis der Wirksamkeit gegenüber Placebo oder ggf. einer bereits etablierten Vergleichssubstanz. Für die Studienteilnahme gelten meist zahlreiche Ausschlusskriterien. Es handelt sich somit um eine starke Selektion (so viel wie möglich von der Ziel-Krankheit und daneben «putzgesund»). Diese Population entspricht leider nicht dem Praxisalltag (betagt und polymorbid). Die Teilnehmerzahl ist verhältnismässig klein, so dass seltenere UW verpasst werden können. Die Studien sind von zu kurzer Dauer, um Langzeitschäden dokumentieren zu können. Frauen im gebärfähigen Alter sind untervertreten, Studien bei Kindern und Schwangeren fehlen meist ganz. Möglicherweise auftretende Schädigungen der Keimbahn werden nur im Tierversuch untersucht.

UW werden im Verlauf der Medikamentenprüfung auf verschiedenen Ebenen festgehalten. Phase I (Wirksamkeitsnachweis) und Phase II (Dosisfindung) sind hierfür weniger relevant als die Phasen III (klinische Studien) und IV (Post-Marketing). UW können dosisabhängig oder auch -unabhängig schon bei kleinsten Dosen auftreten. Sie können sich nach der Erstanwendung, nach einer gewissen Sensibilisierung (Typ Allergie) oder erst nach längerem Gebrauch (kumulativ) manifestieren. Die Unverträglichkeit kann durch den Wirkstoff selbst, dessen Metabolite oder Hilfsstoffe begründet sein. Sie kann auch Teil der Wirkung sein (orthostatischer Schwindel bei Blutdruckmedikamenten). Bisweilen kann aus der Neben- auch die Hauptwirkung werden (Minoxidil und Haarwuchs). In einem erweiterten Sinn können auch Interaktionen mit anderen Medikamenten oder mit Krankheiten als UW aufgefasst werden («drug-drug», «drug-disease»).

Bei der Anwendung gemäss Fachinformation werden UW als unvermeidliche Folge der bestimmungsgemässen Anwendung angesehen und führen im Schadensfall nicht zu einer Haftung des verschreibenden Arztes oder Apothekers; bei der Off-label-Verwendung ist dies nur der Fall, wenn der Patient bzw. die Patientin oder ihr Rechtsvertreter schriftlich über die Gefahren der Therapie informiert worden ist. (Von einer Off-label-Verwendung oder einer «Hors Liste»-Applikation wird gesprochen, wenn der Gebrauch in einem oder mehreren Punkten wesentlich von der Fachinformation abweicht. Dies kann die Indikation, die Dosierung, den Anwendungsweg, die Patientengruppe u.a.m. betreffen.).

Nach der Zulassung

Nach der Zulassung spricht man von Phase IV. Teilweise werden von der Behörde (vor allem im Rahmen einer beschleunigten Zulassung) sogenannte «postmarketing commitment studies» verlangt, selten auch im späteren Verlauf. Neben speziellen Überwachungssystemen der Behörden (z.B. Drug-Induced Liver Injury Network), Registerstudien für spezielle UW (z.B. Teratogenität) oder Interaktionsstudien sind hier vor allem die Spontanmeldesysteme (Pharmakovigilanz) zu erwähnen.

Das Problem der Pharmakovigilanz besteht darin, dass jene UW systematisch verpasst werden, die auf der Förderung von ohnehin recht häufigen und insbesondere alterskorrelierten Erkrankungen beruhen, z.B. Krebsleiden, Demenz und besonders Osteoporose [1]. Ebenso darf spekuliert werden, dass Medikamente, die schon seit vielen Jahren zugelassen sind und über lange Zeit und insbesondere bei betagten und gebrechlichen Personen angewendet werden, die Verschreiber kaum zur Verfassung einer UW-Meldung motivieren, vor allem dann nicht, wenn die Gesundheitsstörung auch anders als durch eine UW erklärt werden kann. Auch die Meinung, dass die UW ja ohnehin bekannt sei, führt neben der «fehlenden Zeit» zu einer verminderten Meldefrequenz. Technisch spricht man hier von einem «underreporting» und einem «selective reporting» - dass solche Phänomene die in der Fachinformation beschriebenen Häufigkeiten massiv verfälschen können, versteht sich von selbst. Zudem tragen die Patientinnen und Patienten ja nicht eine Tätowierung auf der Stirn: «Hallo, ich habe eine Nebenwirkung»; somit ist die «non-detection» ebenfalls ein wichtiger Grund für die unterlassene Meldung.

Ein Hinweis dazu: Gemäss dem neuen Heilmittelgesetz, das am 1. Januar 2019 in Kraft getreten ist, müssen in der Schweiz schwerwiegende, bisher unbekannte oder in der Fachinformation des betreffenden Medikamentes ungenügend erwähnte sowie weitere medizinisch wichtige unerwünschte Wirkungen gemeldet werden. Definition: Schwerwiegende UW verlaufen tödlich, sind lebensbedrohlich, führen zu einer Hospitalisation oder deren Verlängerung, verursachen schwere oder bleibende Schäden oder sind sonst als medizinisch wichtig zu beurteilen (z.B., wenn durch eine rechtzeitige medizinische Intervention eine der oben erwähnten Situationen vermeidbar gewesen wären). Solche unerwünschten Wirkungen müssen innert 15 Tagen nach Kenntnis gemeldet werden, nicht schwerwiegende unerwünschte Wirkungen innert 60 Tagen [2].

Einen gewissen Ausweg aus der Melde-Misere bieten die grossen Kohortenstudien, die vor allem in den skandinavischen Ländern immer wieder Zusammenhänge aufdecken konnten. Ein aktuelles Beispiel betrifft einen möglichen Zusammenhang zwischen Diuretika und Hautkrebs - allerdings erst 60 Jahre nach der Zulassung von Hydrochlorothiazid [3]. Wichtig bei der Beschäftigung mit vermuteten Nebenwirkungen ist immer auch die Suche nach einem Mechanismus, der die Beobachtung erklären könnte. Bei den Diuretika handelt es sich um eine Photosensibilisierung. Umgekehrt muss man sich dann bei allen anderen photosensibilisierenden Substanzen fragen, ob sie nicht auch zu vermehrtem Hautkrebs führen könnten. Ein weiteres Beispiel sind die gehäuften Suizide und Unfälle bei Patienten, die Gabapentinoide (Gabapentin, Pregabalin) einnehmen. 19 Jahre nach der Markteinführung berichten Molero et al. im Rahmen einer schwedischen Kohortenstudie darüber [4, 5]. Ebenfalls aus Schweden stammt die Beobachtung gehäufter Aortenaneurysmen unter Fluorochinolonen [6].

Leider lösen auch Kohortenstudien das Problem nicht in allen Fällen. Eine Signalerkennung ist dann unmöglich, wenn praktisch alle Personen mit einer bestimmten Krankheit die gleiche Therapie erhalten, weil dann eine Vergleichsgruppe fehlt. Dies ist z.B. bei der Parkinsonerkrankung der Fall, da früher oder später alle Erkrankten mit L-Dopa behandelt werden. Es gibt begründete Hinweise, dass L-Dopa die beim Morbus Parkinson gehäufte Osteoporose mitverursachen bzw. verschlimmern könnte [7]. Leider wird die Gefahr, an Osteoporose zu erkranken, weder in der Fachinformation noch in der Packungsbeilage der beiden marktführenden Medikamente erwähnt.

Das Skelettsystem meldet sich ja erst mit Symptomen, wenn eine Fraktur auftritt; eigentlich müsste deshalb die Sicherheit der Langzeitanwendung von Medikamenten hinsichtlich des Knochensystems obligatorisch dokumentiert werden. Es wäre einfach, in gewissen Phase-III-Studien Knochendichtemessungen und Stoffwechseluntersuchungen mitlaufen zu lassen. Solange das aber nicht vorgeschrieben ist, werden die Hersteller sich hüten, diese Tests freiwillig durchzuführen. Denn ist das Medikament untersucht und sicher, hat man nur Kosten generiert - ist es hingegen problematisch, hat man zusätzlich einen Wettbewerbsnachteil. So ist es doch einfacher, gar nichts zu untersuchen! Ist es denn mit den neueren Medikamenten besser als früher? Das Medikament, das im Jahr 2018 in der Schweiz den höchsten Umsatz erzielt hat, ist Rivaroxaban (Xarelto®). In Zellkulturen wurde gezeigt, dass es die Kollagen-Biosynthese hemmen und deshalb die Knochenbildung gefährden kann [8]. Systematische Studien zur Knochensicherheit fehlen jedoch. Immerhin konnte eine kleine, nicht kontrollierte Studie aus Japan zeigen, dass sich innert sechs Monaten biochemische Marker wie die knochenspezifische alkalische Phosphatase, das Osteopontin und das unter-carboxylierte Osteocalcin signifikant verbesserten, wenn von Warfarin auf Rivaroxaban umgestellt worden war [9].

Kritik der Fachinformation

In den klinischen Studien werden die Probanden zu bestimmten Zeiten in der Regel mit standardisierten Fragebogen oder Interviews nach Befindlichkeitsstörungen befragt. Die gewonnenen Angaben werden für die Dokumentation der Nebenwirkungen in der Fachinformation und der Packungsbeilage verwendet. Je nach gewählter Darstellung wird die Häufigkeit der Nebenwirkung in Prozent jener unter Placebo entgegengestellt, oder es wird eine Kodierung verwendet: «Sehr häufig» (≥1/10), «häufig» (<1/10 bis ≥1/100), «gelegentlich» (<1/100 bis ≥1/1‘000), «selten» (<1/1‘000 bis ≥1/10'000), «sehr selten» (<1/10'000). Dabei ist der Nenner aber mit «Berichte unter Kurz- oder Langzeittherapie» recht ungenau gefasst. Da der Komparator fehlt, sind viele in der Fachinformation erwähnte, unerwünschte Wirkungen vor allem durch das gewählte Patientenkollektiv und die Studienanordnung, nicht aber durch das Medikament selbst erklärt [Beispiel unten]. So wird der Befindlichkeitsfragebogen in der Placebogruppe zu einem Antidepressivum ein völlig anderes Beschwerdebild ergeben, als dies z.B. in einer Studie zur Antikoagulation bei Vorhofflimmern der Fall ist. Es gibt offensichtlich überhaupt keine Norm, wie die Nebenwirkungen darzustellen sind, es ist häufig nicht klar, woher die jeweiligen Angaben stammen (Zulassung oder Postmarketing) und wie zuverlässig sie sind. Leider machen diese Unschärfen die Packungsbeilage schwer les- und interpretierbar und erweisen der bestimmungsgemässen Anwendung des Medikamentes keinen Dienst.  


Nebenwirkungen von Placebo rosa (erfundenes Beispiel, gekürzte Fassung)

Psychiatrische Störungen
Sehr selten: Desorientiertheit, Depression, Schlaflosigkeit, Alpträume, Reizbarkeit, psychotische Störung.
Nervensystem
Häufig: Kopfschmerzen, Benommenheit. Selten: Somnolenz. Sehr selten: Parästhesie, Gedächtnisstörung, Konvulsion, Angstgefühl, Zittern, 
Ohr und Innenohr
Häufig: Vertigo. Selten: Tinnitus, vermindertes Hörvermögen.
Gastrointestinale Störungen
Häufig: Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Dyspepsie, Bauchschmerzen, Blähung, verminderter Appetit.
...

Es ist davon auszugehen, dass a) ein relevanter Teil in der Fachinformation erwähnten Nebenwirkungen nichts mit der getesteten Substanz zu tun hat, sondern als «Hintergrundrauschen» zu interpretieren ist, und dass b) auch heute noch wichtige Nebenwirkungen weiterhin systematisch verpasst werden und somit nicht in der Fachinformation auftauchen. Die Schweizer Behörden versuchen jeweils, die Medikamentenzulassung mit den «big players» wie EMA, FDA usw. in Einklang zu bringen. Trotzdem können und sollen wir praktizierenden Ärztinnen und Ärzte Einfluss nehmen. Wir können dies einerseits, indem wir grosszügig auch etwas «versponnene» Nebenwirkungen aktiv an unsere gut funktionierenden Pharmakovigilanz-Zentren melden, und andererseits, indem wir Vertreter der Pharmaindustrie auf Dokumentations- und Sicherheitslücken bei deren Präparaten aufmerksam machen und insistieren.

Danksagung

Herzlichen Dank an Prof. Alessandro Ceschi, Bellinzona und Prof. Michael M. Kochen, Freiburg (D) für das Gegenlesen des Manuskripts.

Standpunkte und Meinungen

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Was wissen wir über die Nebenwirkungen der Medikamente, die wir verschreiben? (kein Passwort) (5. November 2019)
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