Imatinib

Synopsis

Imatinib (STI-571, Glivec®) wird zur Behandlung der chronisch-myeloischen Leukämie empfohlen.

Chemie/Pharmakologie

Die chronisch-myeloische Leukämie (CML) stellt mit einer jährlichen Inzidenz von 1 bis 2 pro 100'000 ungefähr 15% der Leukämien beim Erwachsenen und tritt am häufigsten zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr auf. Sie beginnt mit einer chronischen Phase, die meist von wenig Symptomen begleitet ist und mehrere Jahre dauert, und endet im Blastenschub, der wie eine aggressive Form einer akuten Leukämie betrachtet werden kann. Dem Blastenschub geht oft eine sogenannte akzelerierte Phase voran, die unterschiedlich lange dauert und bedeutet, dass die Krankheit mit Medikamenten nur mehr schlecht kontrolliert werden kann. Bei Personen mit CML lässt sich das Philadelphia-Chromosom (Ph-Chromosom) nachweisen, das aus einer reziproken Translokation zwischen den Chromosomen 9 und 22 entsteht. Diese Translokation führt zu einem Onkogen bzw. -protein - mit dem Kürzel "BCR-ABL" bezeichnet - und ist damit die direkte Ursache der Leukämie. Das BCR-ABL-Fusionsprotein fungiert als zytoplasmatische Tyrosinkinase; diese phosphoryliert verschiedene Substrate, wodurch die Steuerung von Zellwachstum und -differenzierung gestört und eine maligne Entartung induziert wird.

Imatinib besetzt die ABL-Untereinheit der BCR-ABL-Tyrosinkinase und hemmt dieses Enzym, das für das Überleben der malignen Zellen essentiell ist. Imatinib bindet sich noch an weitere Enzyme, die als Tyrosinkinasen an der Wachstumsregulation beteiligt sind, z.B. an den Stammzellfaktor-Rezeptor (c-Kit) und den "Platelet-derived-growth-factor"-Rezeptor (PDGF-R).

Das Ziel bei der Behandlung einer CML ist es, die klonale Evolution zu unterbinden und damit eine möglichst hohe Remissionsrate zu erreichen sowie die Entwicklung des Blastenschubs hinauszuzögern; bei der Remission unterscheidet man zwischen einer hämatologischen Remission (Senkung der Leukozyten-, Thrombozyten- und Blastenzahl) und einer zytogenetischen bzw. molekularen Remission (Unterdrückung des malignen Zellklons, gemessen an der Abnahme der Ph-Chromosom-positiven Zellen). Bis zur Einführung von Imatinib standen bei der CML folgende Therapiemöglichkeiten im Vordergrund: einerseits die Knochenmarks- oder Stammzelltransplantation - einziges Verfahren, das eine Chance auf Heilung eröffnet -, anderseits eine medikamentöse Behandlung mit Interferon alfa (Intron A®, Roferon®-A), bis anhin die wirksamste Substanz, oder mit Zytostatika wie z.B. Hydroxycarbamid (Litalir®), Busulfan (Myleran®) oder Cytarabin (Cytosar®). Während mit allen diesen Medikamenten ein hämatologisches Ansprechen erreicht werden kann, sind zytogenetische Remissionen einzig bei Interferon alfa beobachtet worden.(lit)

Pharmakokinetik

Maximale Plasmaspiegel von Imatinib werden 2 bis 4 Stunden nach oraler Einnahme erreicht. Die biologische Verfügbarkeit beträgt 98%. Imatinib wird grossenteils in der Leber über Zytochrome abgebaut, in erster Linie durch das Isoenzym CYP3A4, in geringem Mass auch durch CYP1A2, CYP2C9/19 und CYP2D6. Der Hauptmetabolit entsteht durch eine Demethylierung und ist pharmakologisch aktiv. Die Ausscheidung findet - zu 25% als unveränderte Substanz - via Stuhl und Urin statt. Die Plasmahalbwertszeit von Imatinib liegt bei 18 Stunden, diejenige des Hauptmetaboliten bei 40 Stunden. Die Pharmakokinetik bei Leber- oder Niereninsuffizienz ist noch nicht untersucht.(lit)

Klinische Studien

Die bisher bekannten Studien mit Imatinib sind alle offen und ohne Kontrollgruppen durchgeführt worden. In der chronischen Phase der CML wurde das Medikament nur eingesetzt, wenn Interferon alfa versagte oder ganz schlecht vertragen wurde. Von zwei kleineren Studien sind umfangreichere Zwischenanalysen publiziert worden:

In einer Studie wurde in erster Linie die Verträglichkeit verschiedener Dosen geprüft. 83 Personen in der chronischen Phase der CML erhielten Imatinib-Tagesdosen zwischen 25 und 1000 mg. Bei fast allen Personen, die mehr als 300 mg pro Tag erhielten, kam es zu einer kompletten hämatologischen Remission (Normalisierung von Leukozyten- und Thrombozytenzahl). Bei gut der Hälfte der Personen, bei denen eine komplette hämatologische Remission erzielt wurde, liess sich auch eine zytogenetische Remission nachweisen.(5)

In einer Pilotstudie wurden 58 Kranke, bei denen sich die CML zum Blastenschub entwickelt hatte (n=48) oder die an einer Ph-Chromosom-positiven akuten lymphatischen Leukämie (n=10) litten, mit Imatinib-Tagesdosen zwischen 300 und 1000 mg behandelt. 35 Personen sprachen auf die Therapie an: bei 27 erreichte man eine Abnahme der Blasten im Knochenmark auf weniger als 15%, bei 8 eine komplette hämatologische Remission (Abnahme der Blasten im Knochenmark unter 5%, Normalisierung des Blutbildes). Nach einer medianen Zeitdauer von zwei bis drei Monaten erlitten 21 der 35 erfolgreich Behandelten einen Rückfall.(6)

Grössere Studien sind bisher erst in Kurzform veröffentlicht worden: 532 Kranke in der chronischen Phase einer CML erhielten 400 mg Imatinib täglich. 88% erreichten eine vollständige hämatologische Remission. Die Zeit bis zum Ansprechen betrug etwa 3 Wochen. Innerhalb von etwa 3 Monaten wurde zudem bei 49% eine klinisch bedeutsame zytogenetische Remission erreicht. Es lässt sich eine etwa 90%ige Chance errechnen, dass unter dieser Therapie innerhalb von 9 Monaten keine Progression der Krankheit in das akzelerierte oder Blasten-Stadium erfolgt.(7)

In einer Studie bei 235 Kranken in der akzelerierten Phase einer CML ergab sich unter 400 bis 600 mg Imatinib täglich bei 63% der Behandelten eine hämatologische Remission von wenigstens 4 Wochen Dauer. Klinisch relevante zytogenetische Remissionen wurden bei 21% beobachtet.(7)

Von 260 Personen im Blastenschub, die ebenfalls 400 oder 600 mg Imatinib täglich erhielten, liess sich bei 26% eine hämatologische Remission von wenigstens 4 Wochen Dauer erreichen. Die mediane Überlebenszeit betrug etwa ein halbes Jahr.(7)

Möglicherweise hilft Imatinib auch bei anderen, soliden Tumoren, bei denen veränderte Tyrosinkinasen eine Rolle spielen. In einer ersten Studie hemmte Imatinib das Tumorwachstum bei 32 von 36 Kranken mit einem metastasierenden gastrointestinalen Stromatumor.(8) Dabei handelt es sich um einen Sarkomtyp, der mit einer Mutation des Stammzellfaktor-Rezeptors assoziiert ist.

Unerwünschte Wirkungen

Fast alle Personen, die mit Imatinib behandelt werden, leiden unter Nebenwirkungen. Am häufigsten sind Übelkeit und Erbrechen, Ödeme, Durchfall, Kopfschmerzen, Muskelkrämpfe und -schmerzen, Arthralgien sowie Hautausschläge.(4,7) In einem Fallbericht wird eine akute generalisierte exanthematöse Pustulose erwähnt.(9) Imatinib führt häufig zu einer Flüssigkeitsretention; bis zu 5% der Behandelten sind von schweren Formen (Pleura- oder Perikardergüsse, Lungenödem, Aszites, rasche Gewichtszunahme) betroffen. Auch Zytopenien kommen vor, namentlich eine Neutropenie und Thrombozytopenie. Bei bis zu 5% der Behandelten beobachtet man einen Anstieg von Leberwerten (Transaminasen, alkalische Phosphatase, Bilirubin) auf das Drei- bis Zehnfache. Je nach Schweregrad einer Nebenwirkung sollte die Dosis reduziert oder die Therapie mit Imatinib unterbrochen werden.(lit)

Interaktionen

Die Plasmaspiegel von Imatinib können durch CYP3A4-Hemmer (z.B. Makrolide) erhöht und durch Medikamente, die CYP3A4 induzieren (z.B. Antiepileptika), gesenkt werden. In vitro erwies sich Imatinib als ein potenter Hemmer von CYP3A4, CYP2D6 und CYP2C9/19; Beispiele für potentiell gefährliche Interaktionen, die sich daraus ergeben, sind die Kombination von Imatinib mit Simvastatin (Zocor®) oder mit oralen Antikoagulantien.(4,7) Unter einer Behandlung mit Imatinib soll ferner kein Paracetamol eingenommen werden.

Dosierung, Verabreichung, Kosten

Imatinib (Glivec®) wird als Kapseln zu 100 mg angeboten und ist kassenzulässig. Indikation ist einerseits eine CML in einer chronischen Phase, die auf Interferon alfa nicht anspricht, andererseits eine CML in einem fortgeschrittenen Stadium (akzelerierte Phase, Blastenschub). Die empfohlene Anfangsdosis beträgt 400 mg/Tag (chronische Phase) bzw. 600 mg/Tag (fortgeschrittenes Stadium). Abhängig von Ansprechen und Nebenwirkungen kann die Tagesdosis auf 600 bzw. 800 mg/Tag erhöht werden. Tagesdosen bis zu 600 mg werden in einer Gabe verabreicht, höhere Dosen auf 2 Gaben verteilt. Bei Leber- oder Niereninsuffizienz ist bei der Dosierung Vorsicht geboten. Wegen der Gefahr einer Flüssigkeitsretention muss die Behandlung bei Kranken mit Herzinsuffizienz sorgfältig überwacht werden. Im Tierversuch hat Imatinib Missbildungen hervorgerufen und sich in der Muttermilch nachweisen lassen. Deshalb soll Imatinib möglichst nicht während der Schwangerschaft eingesetzt werden und Frauen, die Imatinib erhalten, sollten nicht stillen.

Mit einer Tagesdosis von 400 bis 800 mg kostet Imatinib um die 4000 bis 8000 Franken pro Monat. Was die reinen Medikamentenkosten betrifft, ist Imatinib das teuerste Medikament zur CML-Therapie; gegenüber Interferon alfa ist der Unterschied relativ gering, gegenüber den billigen Standard-Zytostatika (Hydroxcarbamid) immens.

Kommentar

Die Hoffnung ist berechtigt, dass Imatinib einen Fortschritt in der Behandlung der chronisch-myeloischen Leukämie bedeutet, weil es als erstes Medikament in den Mechanismus eingreift, der mit dem genetischen Defekt der Tumorzelle verbunden ist. Dennoch wirkt der Enthusiasmus, wie er auch in den Laienmedien vermittelt wird, etwas verfrüht. Bis anhin ist einzig dokumentiert, dass Imatinib in einem grossen Prozentsatz zu hämatologischen Remissionen führt und zytogenetische Remissionen häufiger zu sein scheinen als unter Interferon, der besten bisher zur Verfügung stehenden Therapie. Remissionsraten sind indessen Surrogatmarker, die nur bedingt mit der Überlebenswahrscheinlichkeit korrelieren. Ein möglicher Vorteil von Imatinib gegenüber den herkömmlichen Mitteln ist, dass man weniger schwerwiegende oder störende Nebenwirkungen beobachtet. Bevor man die Anwendung ausserhalb von klinischen Studien propagieren kann, muss mit kontrollierten Vergleichsstudien gezeigt werden, dass Imatinib die Lebenszeit bei guter Lebensqualität verlängert; solche Vergleichsstudien sind momentan im Gange. Ferner muss durch zusätzliche Daten sichergestellt werden, dass Imatinib keine nennenswerte Langzeittoxizität besitzt.

Standpunkte und Meinungen

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Imatinib (12. November 2001)
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pharma-kritik, 23/No. 08
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