Pharma-Industrie: quo vadis?

ceterum censeo

Der pharmazeutischen Industrie geht es gut, sehr gut sogar. Sicher gibt es in dem weltweiten Kräftespiel, dem die Grossen der Industrie ausgesetzt sind, immer wieder punktuell Rückschläge. Staatliche Eingriffe sind gefürchtet: in Deutschland sind deshalb die Verkaufszahlen in den ersten Monaten dieses Jahres um rund 20% kleiner als im letzten Jahr.

Dies ändert aber grundsätzlich nichts an der Tatsache, dass die Pharma-Industrie auf Jahre hinaus mit einem sicheren Wachstum rechnen kann. Dies beruht nicht nur auf dem sich ständig vergrössernden Heer alter Menschen, sondern ganz wesentlich auch auf den erfolgversprechenden neuen Arzneimitteln, die sich zurzeit noch in der Forschungs- Pipeline befinden.

Dass für die Pharma-Industrie nicht ganz die gleichen Regeln gelten wie für andere Industriebranchen und insbesondere ein wesentlich strengerer ethischer Massstab angelegt werden muss, braucht hier nicht weiter erläutert zu werden. Ist diese dynamische, zukunftsorientierte Industrie in der Lage, der heiklen Balance zwischen den Bedürfnissen kranker Menschen, den legitimen Ansprüchen der Belegschaft und den Aktionärsinteressen gerecht zu werden? Die Frage kann wohl zu einem grossen Teil bejaht werden.

Ich sehe aber noch verschiedene Bereiche, wo Verbesserungen vordringlich wären. Ich bin auch sicher, dass sich ein Überborden staatlicher Eingriffe nur dann vermeiden lässt, wenn die Industrie selbst rechtzeitig ihr Verhalten ändert.

Geheimnistuerei

Ein für die kranken Menschen und die Ärzte gleichermassen störendes Problem ist die völlig überflüssige Geheimnistuerei der Pharma-Industrie. Dieser Missstand, den ich schon wiederholt angeprangert habe, scheint aus der Zeit der Wunderheiler und Quacksalber zu stammen. Natürlich habe ich Verständnis dafür, dass ein mit beträchtlichem finanziellem Aufwand entwickeltes neues Arzneimittel vor plumper Nachahmung geschützt werden muss.

Anderseits ist doch festzuhalten, dass Information über erwünschte und unerwünschte Wirkungen eines Medikamentes niemals «vertraulichen» Charakter haben darf, wenn dieses Medikament ärztlich verschrieben werden kann. Dies bedeutet unter anderem, dass die Dokumente zu allen klinischen Studien in geeigneter Form jedem Arzt, der das Medikament verschreiben will, zur Verfügung stehen sollten. Es geht nicht an, dass uns die Industrie eine Selektion «vorteilhafter» Studienresultate präsentiert und weniger gute Ergebnisse diskret verschweigt. Es genügt auch nicht, wenn die Arzneimittelbehörde Einsicht in alle Unterlagen bekommt. Die Zeiten des blinden Vertrauens in Autoritäten sind vorbei. Weshalb eine wissenschaftlich orientierte Firma am Ende des 20. Jahrhunderts die Offenlegung aller klinischen Daten fürchten oder wieso sich diese Transparenz negativ auswirken sollte, ist mir unverständlich.

In der Schweiz werden auch die Verkaufszahlen der Medikamente als Geheimnis gehütet. Diese Art von Information ist in vielen Ländern, so zum Beispiel in Deutschland, ohne weiteres erhältlich. Verkaufszahlen sind besonders im Zusammenhang mit der Analyse unerwünschter Wirkungen und deren vergleichenden Beurteilung von Bedeutung. Ich bin zwar nicht der Meinung, die Kenntnis der Schweizer Verkaufszahlen würde schlagartig alle Nebel um die Nebenwirkungsinzidenz auflösen. Nützlich wäre es dennoch, wenn man z.B. bei der Abschätzung der Risiken eines Benzodiazepins auch wüsste, wie häufig die Substanz verschrieben wird. Auch in bezug auf die Verkaufszahlen ist es schleierhaft, welcher Nachteil der Industrie aus dem Bekanntwerden dieser Daten erwachsen könnte.

Studien-Unordnung

Beträchtliche Mängel bestehen sodann im Bereich der klinischen Studien neuer, noch nicht offiziell zugelassener Medikamente.

Man muss nicht zu den Eingeweihten gehören um zu wissen, dass in der Schweiz immer noch gelegentlich Studien durchgeführt werden, die nicht von einem unabhängigen Gremium («Ethikkommission») begutachtet worden sind. Ethikkommissionen haben die Funktion, kranke Menschen (oder auch gesunde Probanden) vor unsinnigen oder gefährlichen Studien zu schützen. Internationale Richtlinien (die sogenannte Deklaration von Helsinki) und Weisungen der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften sind massgebend. Diese Regeln nützen aber nur, wenn sie auch angewandt werden. Es ist ganz klar, dass hier die einzelnen Firmen eine grosse Verantwortung tragen.

Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass wir in der Schweiz keine Stelle haben, die Auskunft geben könnte, wer wo welche Studie durchführt. Zwar hat unsere Arzneimittelbehörde (IKS) eine Arbeitsgruppe von Experten mit der Vorbereitung einer Registrierungsstelle beauftragt; es ist aber noch völlig offen, wann eine solche Stelle auch tatsächlich in Funktion treten kann. Bis dies der Fall sein wird, sollte die Industrie freiwillig Hand bieten, die in der Schweiz durchgeführten Studien einer geeigneten Zentrale (z.B. einer der Abteilungen für Klinische Pharmakologie unserer Universitäten) zu melden.

International sollte so rasch wie möglich erreicht werden, dass sämtliche Studien, die mit einer Substanz durchgeführt werden, eindeutig mit einer seriellen Nummer versehen werden. Ich halte es für sehr wichtig, dass sich alle Studien identifizieren lassen, solche, die zu Ende geführt wurden, aber auch solche, die vorzeitig abgebrochen wurden. Auch diese letzteren Studien können unter Umständen relevante Informationen vermitteln. Die Numerierung ist auch im Hinblick auf Publikationen notwendig. Sehr häufig werden Resultate einer Studie mehrfach veröffentlicht und zwar nicht selten in einer Art und Weise, dass man annehmen könnte, es handle sich um zwei unabhängige Studien. Wenn alle Studien mit ihrer Nummer bezeichnet würden, wären solche Doppelspurigkeiten offensichtlich.

Gewinnmaximierung

Auch ich bin der Meinung, dass der Pharma-Industrie genügend Geld zur Verfügung stehen muss, um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter adäquat zu entlöhnen und jetzt und in Zukunft gute Forschung betreiben zu können.
In den letzten Jahren hat sich dieser Industriezweig aber nicht gescheut, ganz offensichtlich auf Gewinnmaximierung hin zu arbeiten. Medikamente, die bei ihrer Einführung einen therapeutischen Fortschritt darstellen, werden oft zu horrenden Preisen verkauft. Sumatriptan (Imigran ®) ist ein aktuelles Beispiel zu dieser Preispolitik. Später, wenn solche Arzneimittel reichlich verkauft werden und auch Alternativen vorhanden sind, werden die Preise aber nicht gesenkt. Dies zeigt zum Beispiel die Erfahrung mit den H2-Antagonisten.

Für ethisch sehr fragwürdig halte ich das Verhalten einer Herstellerfirma, die mitteilt, ihr Medikament sei «noch nicht» kassenzulässig, in vielen Fällen würden die Kosten jedoch von einer Zusatzversicherung übernommen. Finasterid (Proscar®) ist ein Beispiel zu diesem Vorgehen. Es ist nicht anzunehmen, dass eine Korrelation zwischen Prostatahyperplasie und dem Abschluss einer Zusatzversicherung besteht.

Auch die Preise von Medikamenten, die schon länger eingeführt sind, scheinen in der Schweiz unter Heimatschutz zu stehen (auch dann, wenn sie gar nicht in der Schweiz hergestellt werden). So wirkt es eben stossend, wenn z.B. das Amoxicillin-Originalpräparat (Clamoxyl®) in unserem nördlichen Nachbarland zu rund 45% des Schweizer Preises erhältlich ist. Seit in Deutschland die Festbeträge eingeführt wurden, sind dort zahlreiche Originalpräparate viel billiger als in der Schweiz.

Der internationale Vergleich bringt mich immer wieder zum Staunen. Wieso verkauft eine Schweizer Firma ihren ACE-Hemmer Benazepril (Cibacen®) in den USA deutlich billiger als hier und erst noch mit der Garantie eines über Jahre gleichbleibenden Preises? Ist es denn nicht so, dass eine solche Politik die staatlichen Eingriffe geradezu provoziert? Ich bin jedenfalls davon überzeugt, dass die Pharma-Industrie vom Image einer «gewinnmaximierenden » Branche wegkommen sollte.

Etzel Gysling

Standpunkte und Meinungen

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Pharma-Industrie: quo vadis? (14. März 1993)
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pharma-kritik, 15/No. 05
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