Naltrexon

Synopsis

Naltrexon ist ein oraler Opiatantagonist, der nach dem vollständigen Entzug zur langfristigen medikamentösen Behandlung ehemals Opiatabhängiger empfohlen wird.

Chemie/Pharmakologie

Die chemische Struktur von Naltrexon gleicht derjenigen von Naloxon (Narcan®). Naltrexon ist ein kompetitiver Opiatrezeptor-Antagonist. Die Substanz hat fast nur antagonistische Wirkungen und lindert das Verlangen nach Opiaten nicht. Die antagonistische Wirkung kann durch sehr hohe Opiatdosen überwunden werden.

Pharmakokinetik

Nach oraler Verabreichung wird Naltrexon rasch und praktisch vollständig resorbiert. 80 bis 95% einer Dosis unterliegen in der Leber einer präsystemischen Metabolisierung («first-pass»). Maximale Plasmaspiegel werden nach etwa einer Stunde erreicht. Die klinisch relevante Halbwertszeit beträgt etwa 9 Stunden. Da die Ausscheidung anschliessend stark verlangsamt erfolgt, beträgt die terminale Halbwertszeit rund 96 Stunden. Naltrexon wird in der Leber überwiegend zu b-Naltrexol (6b-Hydroxynaltrexon) reduziert. Dieser Metabolit ist wesentlich weniger antagonistisch aktiv als Naltrexon, erreicht aber viel höhere Plasmakonzentrationen. Es wird deshalb angenommen, dass auch b-Naltrexol zur Wirkung beiträgt. Maximale Plasmaspiegel von b-Naltrexol finden sich nach 2 Stunden; die Halbwertszeit beträgt etwa 13 Stunden. Die Ausscheidung von Naltrexon erfolgt überwiegend in Form von Metaboliten über Urin (60 bis 70%) und Stuhl (2 bis 3%).(1,2)

Klinische Studien

Behandlung ehemals Opiatabhängiger

Der grösste Teil der klinischen Erfahrung mit Naltrexon, das schon in den 70er Jahren erstmals klinisch geprüft wurde und in den USA schon seit über fünf Jahren erhältlich ist, stammt aus offenen Studien. Die Resultate dieser Studien sind widersprüchlich. Dies beruht mindestens teilweise darauf, dass schon drei bis sechs Wochen nach Beginn einer Naltrexontherapie die Studienteilnehmerzahl jeweils auf 20 bis höchstens 60% geschrumpft ist.(1) Entsprechend erbrachten auch die wenigen Doppelblindstudien, in denen in der Regel mit 350 mg Naltrexon pro Woche behandelt wurde, wenig eindeutige Resultate:

Für eine multizentrische Doppelblindstudie wurden 735 Männer ausgewählt. Diese rekrutierten sich aus Opiatabhängigen kurz nach dem Entzug, Personen aus Methadonsubstitutionsprogrammen sowie aus ehemals Opiatabhängigen (aus dem Gefängnis Entlassene bzw. Personen aus drogenfreien therapeutischen Programmen). 543 Männer stiegen bereits vor Beginn der Studie wieder aus. Die restlichen 192 sollten während neun Monaten mit Naltrexonsirup oder Placebo behandelt werden. Mit Naltrexon Behandelte blieben durchschnittlich länger in der Studie, litten weniger oft unter einem starken Verlangen nach Heroin und hatten weniger positive Urinproben auf Opiate als mit Placebo Behandelte. Der Missbrauch von Barbituraten oder Amphetaminen war in beiden Gruppen etwa gleich hoch. Zwischen den beiden Gruppen ergab sich jedoch kein statistischer Unterschied. Nur sieben Personen der Naltrexongruppe und sechs Personen der Placebogruppe blieben bis zum geplanten Ende in der Studie; je fünf davon gehörten zur Gruppe der ehemals Opiatabhängigen.(3)
In einer sechsmonatigen Doppelblindstudie bei 50 Personen mit intravenösem Heroinabusus blieben die mit Placebo Behandelten durchschnittlich länger in der Studie; nur vier Personen (14%) der Naltrexongruppe und acht Personen (36%) der Placebogruppe blieben sechs Monate in der Studie. In der Naltrexongruppe wurden mehr opiatpositive Urinproben, in der Placebogruppe mehr cocainpositive Urinproben gefunden. Die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen waren statistisch nicht signifikant.(4)
Eine zweimonatige Studie bei 31 Opiatabhängigen zeigte ebenfalls keine statistisch signifikanten Unterschiede: In der Naltrexongruppe (15 Personen) beteiligten sich neun Personen bis zum Ende an der Studie; acht Personen blieben während einem Jahr opiatfrei. Von den 16 Personen der Placebogruppe beteiligten sich acht Personen bis zum Ende an der Studie, sechs blieben während einem Jahr opiatfrei.(5)

Die Gründe für den relativen Misserfolg von Naltrexon sind einer genaueren Analyse unterzogen worden: Eine wesentliche Schwierigkeit ist der Umstand, dass die meisten ehemals Abhängigen nicht über längere Zeit zur Einnahme eines Medikamentes zu motivieren sind, das (im Gegensatz zu Methadon) völlig frei von Opiatwirkungen ist. Problematisch gestaltet sich auch der Start der Naltrexonbehandlung: wenn jemand nicht wirklich zuverlässig entwöhnt ist (was z.B. nach Methadon mindestens 10 Tage dauert), treten unter Naltrexon akute Entzugssymptome auf. In manchen Fällen mag auch der hohe Preis der Behandlung die Compliance negativ beeinflussen. Schliesslich ist zu bedenken, dass sich -- im Gegensatz zu einer Antabusbehandlung von Alkoholikern -- aus der Interaktion von Opiaten mit Naltrexon keine unangenehme, sondern einfach gar keine Reaktion ergibt.(6)

Der Erfolg einer Naltrexontherapie kann durch stützende Massnahmen erhöht werden, beispielsweise durch eine gleichzeitige psychotherapeutische Begleitung oder durch den Einbezug der Familie in den Rehabilitationsprozess. Bessere Resultate wurden auch bei motivierten Personen erzielt: höhere Angestellte, Ärzte und Angehörige der Pflegeberufe, denen der Verlust ihrer beruflichen und psychosozialen Stellung drohte, erreichten in offenen Studien vergleichsweise häufig Opiatfreiheit.(7,8) Auch bei Süchtigen, denen eine Gefängnisstrafe droht, lässt sich häufiger ein Erfolg erreichen.(1,2)

Andere Indikationen

In zwei 12wöchigen Doppelblindstudien bei 97 bzw. 70 Personen mit Alkoholabusus traten bei den mit Naltrexon Behandelten weniger Rückfälle auf.(9,10)
Da im Tierversuch ein Einfluss endogener Endorphine auf die Nahrungsaufnahme nachgewiesen werden konnte, wurde Naltrexon auch bei Adipositas, Bulimie, Anorexia nervosa und Prader-Willi-Syndrom geprüft. Die Resultate dieser (kleinen) Studien sind widersprüchlich und erlauben nicht, auf einen eindeutigen Nutzen von Naltrexon zu schliessen.(11)
Naltrexon ist ausserdem in Einzelfällen autistischen Kindern und schizophrenen Erwachsenen gegeben worden und soll sich vorteilhaft ausgewirkt haben.(1)

Unerwünschte Wirkungen

Naltrexon verursacht vor allem dann Probleme, wenn die behandelte Person nicht vollständig von Opiaten entwöhnt ist. In diesen Fällen treten mehr oder weniger stark ausgeprägte Entzugssymptome auf. Im übrigen werden unter Naltrexon nicht selten gastrointestinale Symptome (Brechreiz, Erbrechen) und zentralnervöse Störungen (Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Depression, Angst, Dysphorie, Appetitlosigkeit) beobachtet. Diese Symptome lassen sich allerdings kaum gegen leichte Entzugssymptome abgrenzen. Vereinzelt treten Exantheme auf. Naltrexon kann -- besonders in hohen Dosen -- zu einem reversiblen Anstieg der Leberenzyme führen und scheint somit ein hepatotoxisches Potential aufzuweisen.(1,2)

Dosierung, Verabreichung, Kosten

Naltrexon (Nemexin®) ist als Tabletten zu 50 mg Naltrexonhydrochlorid (entsprechend 45,2 mg Naltrexon) erhältlich. Es ist nicht kassenzulässig. Die übliche Dosis beträgt 350 mg Naltrexonhydrochlorid pro Woche (z.B. 100 mg am Montag und Mittwoch und 150 mg am Freitag). Vor Beginn einer Behandlung mit Naltrexon muss ein opiatfreies Intervall von mindestens 7 Tagen, bei Methadon von mindestens 10 Tagen gewährleistet sein. Dies soll mit Urinproben und einem Naloxon-Test geprüft werden. Am besten wird initial eine Dosis von nur 25 mg Naltrexonhydrochlorid verabreicht und der Patient während einer Stunde auf Entzugssymptome beobachtet. Treten keine Entzugssymptome auf, kann die restliche Dosis gegeben werden.
Kontraindiziert ist Naltrexon bei Opiatabhängigen vor und während dem Entzug und selbstverständlich auch bei Personen, die aus medizinischen Gründen Opiate benötigen. Auch eine Hepatitis und eine schwere Leberinsuffizienz sind Kontraindikationen.
Personen, die mit Naltrexon behandelt werden, sollten einen Ausweis auf sich tragen, der auf diese Behandlung hinweist. Die Behandelten müssen ausdrücklich auf die Gefahr hoher Opiatdosen (wegen verstärkter und verlängerter Atemdepression) hingewiesen werden.
Eine einmonatige Behandlung mit Naltrexon kostet 208 Franken.

Kommentar

Naltrexon verhindert die psychotropen Wirkungen üblicher Opiatdosen. Das Medikament selbst ist praktisch frei von opiatähnlichen oder anderen Wirkungen auf das Zentralnervensystem. Deshalb sind wohl auch die Chancen, dass ehemals Opiatabhängige langfristig Naltrexon nehmen, verhältnismässig klein. Die Resultate klinischer Studien sind jedenfalls recht widersprüchlich. Obwohl somit sein Nutzen nicht über alle Zweifel erhaben ist, sollte die Option «Naltrexon» wohl nicht grundsätzlich abgelehnt werden. Dabei muss man sich bewusst sein, dass Naltrexon nicht eine Behandlung der Sucht darstellt, sondern eines der verschiedenen Hilfsmittel bei der psychosozialen Rehabilitation ehemals Süchtiger. Die Verabreichung von Naltrexon kann z.B. bei folgenden Personen in Frage kommen: Junge Leute, die nur ganz kurzfristig Heroin missbraucht haben; entwöhnte Personen, die aus dem Gefängnis entlassen werden; Personen, die ein Methadonprogramm erfolgreich abgeschlossen haben. Bei schlecht motivierten Leuten lohnt sich die kostspielige Naltrexonbehandlung nicht.

Literatur

  1. 1) Gonzalez JP. Brogden RN. Drugs 1988; 35: 192-213
  2. 2) Crabtree BL. Clin Pharm 1984; 3: 273-80
  3. 3) Hollister LE et al. Arch Gen Psychiatry 1978; 35: 335-40
  4. 4) San L et al. Br J Addict 1991; 86: 983-90
  5. 5) Lerner A et al. Isr J Psychiatry Relat Sci 1992; 29: 36-43
  6. 6) Ginzburg HM, MacDonald MG. Med Toxicol 1987; 2: 83-92
  7. 7) Ling W, Wesson DR. J Clin Psychiatry 1984; 45: 46-8
  8. 8) Washton AM et al. Adv Alcohol Subst Abuse 1984; 4: 89-96
  9. 9) Volpicelli JR et al. Arch Gen Psychiatry 1992; 49: 876-80
  10. 10) O’Malley SS et al. Arch Gen Psychiatry 1992; 49: 881-7
  11. 11) de Zwaan M, Mitchell JE. J Clin Pharmacol 1992; 32: 1060-72

Standpunkte und Meinungen

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Naltrexon (14. September 1993)
Copyright © 2024 Infomed-Verlags-AG
pharma-kritik, 15/No. 17
PK508
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