Arzneimittel- Nebenwirkungs-Zentren in der Schweiz

ceterum censeo

Sind wir auf dem richtigen Weg?

Es sieht nicht so aus, als ob uns bald nur noch ideale, nebenwirkungsfreie Arzneimittel zur Verfügung stehen würden. Unerwünschte Wirkungen von Medikamenten entsprechen einer Realität, mit der wir alle leben müssen. So braucht nicht mehr unterstrichen zu werden, wie wichtig es ist, dass Arzneimittel-Nebenwirkungen möglichst gut erfasst, genau untersucht und schliesslich in geeigneter Form publik gemacht werden.
Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte haben immer wieder gezeigt, dass die toxikologische Austestung und die klinischen Studien vor der Einführung eines neuen Medikamentes nicht genügen, um seltene Nebenwirkungen rechtzeitig zu erfassen. Neue Substanzen bringen oft auch neue Risiken mit sich. Die diversen Probleme, die zum Beispiel mit einigen nicht-steroidalen Entzündungshemmern aufgetreten sind, zeigen dies recht deutlich: Suprofen (Suprol®) kann Flankenschmerzen und eine transitorische Niereninsuffizienz verursachen, Isoxicam (Pacyl®) hat zu toxischer Epidermolyse (Lyell-Syndrom) geführt, Pirprofen (Rengasil®) wurde als Ursache von Hepatitis erkannt, Zomepirac (Zomax®) ist für schwere anaphylaktoide Reaktionen verantwortlich gewesen. Alle diese Medikamente, die heute wegen ihrer Gefahren verschwunden sind, standen bei ihrer Einführung keineswegs im Verdacht, ungewöhnliche Probleme zu verursachen.
Wenn jemand eine unerwünschte Wirkung erleidet, so wird er oder sie in den meisten Fällen eine ärztliche Vertrauensperson -- z.B. den Hausarzt -- konsultieren. Ärztinnen und Ärzte stehen daher, ob sie es wollen oder nicht, im Zentrum der Bemühungen um Nebenwirkungen. Sie sind wie niemand sonst in der Lage, unser Wissen über negative Aspekte der Pharmakotherapie zu verbessern. Dies bedeutet aber auch, dass es von höchster Bedeutung ist, praktizierenden Ärztinnen und Ärzten das Melden von unerwünschten Arzneimittel-Wirkungen zu erleichtern. Ich habe vor fünf Jahren Vorschläge unterbreitet,(1) wie es gelingen könnte, in der Schweiz mehr über unerwünschte Wirkungen zu wissen und so unsere Arzneimittel-Therapie zu optimieren. In der Zwischenzeit hat sich einiges verändert. Es ist an der Zeit, zu untersuchen, ob die Entwicklung meinen damaligen Vorschlägen entspricht. Im Mittelpunkt meiner Empfehlungen stand der Vorschlag, drei neue Institutionen zu schaffen: Als Ergänzung zur Schweizerischen Arzneimittel-Nebenwirkungs-Zentrale (SANZ) sollte ein «Clearing House» für Nebenwirkungen geschaffen werden. Aufgabe des «Clearing House» sollte es sein, Nebenwirkungsberichte in möglichst unkomplizierter Form entgegenzunehmen und diese dann anonym an die SANZ oder eventuell direkt an die Industrie oder die Behörden weiterzuleiten. Ein solches «Clearing House» müsste sich durch zwei entscheidende Vorteile auszeichnen: es sollte praxisgerecht funktionieren (z.B. kein Ausfüllen von mehr oder weniger komplizierten Formularen erfordern) und vollständig unabhängig von der Industrie sein. Die Tatsache, dass die SANZ so eng mit der Industrie verknüpft (und auch finanziell von dieser abhängig) ist, stellt ja ein wesentliches Handicap dar: ein solches Zentrum wird international nicht als Referenzzentrum anerkannt und erhält auch keinen direkten Zugang zu den Nebenwirkungs-Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Auch 1991 gibt es in der Schweiz kein solches «Clearing House». Die Interkantonale Kontrollstelle für Heilmittel (IKS) hat sich aber der Sache -- endlich -- angenommen und ist jetzt bereit, in eigener Kompetenz Nebenwirkungs- Meldungen entgegenzunehmen und zu sammeln. Es steht in Aussicht, dass dieses unabhängige Zentrum von der WHO anerkannt wird und damit zum «offiziellen» Schweizer Nebenwirkungszentrum werden wird. Zudem ist geplant, dass die Institute für klinische Pharmakologie an den Universitäten als ergänzende Zentren funktionieren. Bereits jetzt existieren in Basel und Genf Auskunftsstellen, die auch Nebenwirkungsmeldungen entgegennehmen. Damit ist allerdings noch kein unkomplizierter, praxisnaher Umgang mit Nebenwirkungen gesichert. Im Gegenteil: zurzeit ist es für praktizierende Ärztinnen und Ärzte nicht klar, an wen sie sich wenden sollten.
Ein weiterer Vorschlag lautete, einmal monatlich die Spalten der «Schweizerischen Ärztezeitung» und der «Schweizerischen Apothekerzeitung» einem Nebenwirkungs-Forum zu öffnen. Dieser Vorschlag ist zwar nicht verwirklicht, aber auch hier zeichnet sich eine Verbesserung ab. Die SANZ hat ihre Publikumsaktivität verstärkt und hat in den letzten Jahren z.B. in der «Schweizerischen Ärztezeitung» wiederholt auf Arzneimittel-Probleme hingewiesen.
Es ist jedoch klar, dass sich im Bereich der Information über Nebenwirkungen noch viel verbessern liesse. Ein Hindernis auf dem Weg zu einer offeneren Informationspolitik liegt zweifellos in der Tatsache, dass mindestens ein Teil der Pharma-Industrie auch heute noch ein ausgesprochen ambivalentes Verhältnis zu den Nebenwirkungen hat: Einerseits kann sich ja jede Firma nur wünschen, so viel wie möglich über potentielle Nebenwirkungen ihrer Produkte zu wissen. Anderseits fällt es vielen Firmen schwer, präzise Angaben zu den unerwünschten Wirkungen ihrer Medikamente zu veröffentlichen. Je genauer wir nämlich das Nebenwirkungspotential eines Arzneimittels einschätzen können, desto besser können wir verschiedene Substanzen vergleichen. Damit wäre auch die Möglichkeit gegeben, innerhalb einer Gruppe (z.B. der Benzodiazepine, Betablocker, Kalziumantagonisten) Substanzen zu identifizieren, die ein ungünstigeres Nutzen/Risiko- Verhältnis haben. Die möglichen Folgen für die Herstellerfirma brauchen nicht erläutert zu werden.
Die dritte Institution, die ich 1986 angeregt habe, kann als «Nebenwirkungs-Direktorenkonferenz» bezeichnet werden. Eine kleine Gruppe von Fachleuten, die sich intensiv mit Nebenwirkungen befassen, sollte regelmässig zusammenkommen und Richtlinien für die Meldung von Nebenwirkungen ausarbeiten. Diese Anregung ist bisher in keiner Weise aufgenommen worden. Es wundert mich immer wieder, dass die zuständigen Instanzen annehmen, jede Praktikerin, jeder Praktiker wisse gewissermassen automatisch, welche Nebenwirkung einer Meldung würdig sei. Tatsache ist aber, dass es ausgesprochen schwierig ist, in der Praxis (oder auch in der Klinik) die Bedeutung einer möglichen Nebenwirkung einzuschätzen. Dies ist vielleicht der wichtigste Grund für die vergleichsweise kleine Zahl der Nebenwirkungsmeldungen in der Schweiz.
Obwohl nämlich die Meldungen an die SANZ im Laufe der Jahre zugenommen haben, gehört die Schweiz zu den Ländern mit einer ausgesprochen geringen Nebenwirkungs- Melderate. In den USA, wo die zuständigen Behörden über zu wenig Meldungen klagen, liefert die Ärzteschaft rund doppelt so viele Meldungen pro Einwohner wie in der Schweiz.(2,3) Dass eine aktive Politik des Nebenwirkungszentrums zu einer starken Steigerung der Meldefreudigkeit führen kann, konnte ebenfalls in den USA gezeigt werden: Im kleinen Staat Rhode Island (Einwohnerzahl: 1 Mio) war es möglich, durch eine entsprechende Kampagne und die Verfügbarkeit lokaler Meldezentren innerhalb von zwei Jahren eine 17fache Zunahme der Meldungen zu erreichen. Dazu ist noch anzumerken, dass nicht etwa nur vermehrt «belanglose» Nebenwirkungen, sondern auch signifikant mehr schwere Reaktionen gemeldet wurden.(4)
Was hält uns denn davon ab, in der Schweiz ein gutes, ein vorbildliches Nebenwirkungs-Meldesystem aufzubauen? Meiner Meinung nach wären die Voraussetzungen für ein «Pharmacovigilance»-Netzwerk in der Schweiz durchaus vorhanden. Wenn man berücksichtigt, wie komplex heute die Pharmakotherapie geworden ist, erscheint die Schaffung regionaler Informationszentren auf alle Fälle wünschenswert. Diese Zentren würden in erster Linie eine konsultative Tätigkeit ausüben (d.h. zur Lösung komplexer therapeutischer Fragen beitragen), könnten aber auch Nebenwirkungen regional sammeln und an ein nationales Zentrum weitergeben. Ob dieses nationale Zentrum der SANZ, dem neuen IKS-Zentrum oder einer anderen Stelle entsprechen würde, ist von sekundärer Bedeutung. Dagegen scheint mir wichtig, dass die regionalen Zentren möglichst eng mit den medizinischen Institutionen der Region verbunden und vollständig unabhängig von der Industrie wären. Durch Zusammenschluss der kleineren Zentren zu einem Netz ergäben sich vielfältige Möglichkeiten des Informationsaustausches. Viele Keimzellen für ein solches Netz sind bereits vorhanden; auch das mit unserem Blatt verbundene Informationszentrum «infopharma » stellt ein Element dar, das sich gut in ein nationales Netz eingliedern liesse.
Wenn wir aber eine vorbildliche Lösung schaffen wollen, benötigen wir auch gute, adäquat ausgebildete Leute. Solche sollten sich heute unter Ärztinnen und Ärzten, aber auch unter Apothekerinnen und Apothekern sicher finden lassen.
Schliesslich stellt sich noch die Frage der Finanzierung. Diese sollte meines Erachtens in einem engen Zusammenhang mit den Medikamentenkosten stehen. Im letzten Jahr wurden in der Schweiz für rund 3 Milliarden Franken Medikamente verkauft. Etwa 54% davon wurden von den Krankenkassen bezahlt. Wenn die Krankenkassen bereit wären, zwei Promille des für Medikamente aufgewendeten Betrags in die Informationszentren zu investieren, stünden jährlich rund 3 Mio Franken zur Verfügung. Dieser Beitrag der Krankenkassen entspricht nicht einer Verteuerung der gesamten Kosten, da sicher mindestens gleichwertige Einsparungen (z.B. durch geringere nebenwirkungsbedingte Spitalkosten) möglich wären. Im übrigen verdiente das Projekt zweifellos auch einen staatlichen Beitrag.

Etzel Gysling

Literatur

  1. 1) pharma-kritik 1986; 8: 15-6
  2. 2) Gartmann J. Schweiz Ärztez 1990; 71: 1203-6
  3. 3) Faich GA. Arch Int Med 1991; 151: 1645-7
  4. 4) Scott HD et al. JAMA 1990; 263: 1785-8

Standpunkte und Meinungen

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Arzneimittel- Nebenwirkungs-Zentren in der Schweiz (14. Juli 1991)
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pharma-kritik, 13/No. 13
PK571
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