Medikamentenbedingte Agranulozytosen

Übersicht

Wenn die Zahl der reifen, segmentkernigen neutrophilen Granulozyten im peripheren Blut unter 1,5 × 109/L (1’500/mL) fällt, spricht man von einer Neutropenie. Eine schwere Neutropenie -- mit einer Neutrophilenzahl von weniger als 0,5 × 109/L (500/mL) -- wird als Agranulozytose bezeichnet. Jede Neutropenie bedeutet ein mässig bis stark erhöhtes Infektionsrisiko; eine Agranulozytose ist ohne antimikrobielle Therapie im allgemeinen nicht mit dem Leben vereinbar.(1)
Neutropenien findet man bei Infektionskrankheiten (z.B. Typhus, Gelbfieber, Malaria), als Begleitsymptom bei hämatologischen Erkrankungen, als Folge chemischer oder physikalischer Einwirkungen sowie bei einigen seltenen, zum Teil vererbten oder angeborenen Leiden. Schwere Formen bzw. Agranulozytosen kommen fast nur nach Kontakt mit chemischen Stoffen oder ionisierenden Strahlen vor.
Eine medikamentenbedingte Agranulozytose wird folgendermassen definiert: (1) Die Nebenwirkung steht in einem zeitlichen Zusammenhang mit einer Medikamenteneinnahme; nach Absetzen des Medikamentes erholt sich der Patient wieder vollständig, sofern er die kritische Phase überlebt. (2) Sie manifestiert sich nur bei Personen, die auf ein bestimmtes Medikament besonders empfindlich reagieren; da man diese Personen im voraus nicht kennt, tritt die Nebenwirkung immer unerwartet auf. (3) Sie betrifft hauptsächlich die Granulopoiese; andere Zellinien des blutbildenden Systems werden nicht nennenswert gestört. (2,3)
Durch Zytostatika oder Immunsuppressiva verursachte Neutropenien werden nicht zu den eigentlichen medikamentenbedingten Agranulozytosen gezählt: genügend hoch dosiert, bewirken diese Substanzen -- vorhersehbar -- immer eine Agranulozytose und hemmen meistens auch die Erythro- und Thrombopoiese.(2)

Pathogenese der medikamentenbedingten Agranulo - zytosen

Agranulozytosen können sowohl über immunologische Mechanismen als auch durch toxische Einflüsse (ohne dass das Immunsystem beteiligt ist) ausgelöst werden.

Immunologisch induzierte Agranulozytosen

Bei den immunologisch induzierten Agranulozytosen übernimmt das Medikament meistens die Rolle eines Haptens: es verbindet sich mit Plasmaproteinen oder mit Oberflächenstrukturen von neutrophilen Granulozyten. Erst in dieser Form ruft es die Synthese spezifischer Antikörper hervor. Eine erneute Verabreichung des Haptens führt dann zu einer Lyse der Zellen, indem sich Antigen- Antikörper-Komplexe bilden und eventuell das Komplementsystem aktiviert wird. Neben den reifen Granulozyten können auch Vorstufen im Knochenmark geschädigt werden.
Klassische Beispiele für einen solchen Mechanismus sind die Analgetika vom Typ der Pyrazolone wie Metamizol (Novaminsulfon, Dipyron, z.B. Novalgin®) oder Aminophenazon (Aminopyrin, Pyramidon). Andere Medika mente können Zellstrukturen wie die Membran so verändern, dass sich gegen die Zelle gerichtete Autoantikörper bilden. In einigen Fällen hat man auch antinukleäre Antikörper entdeckt. Antileukozyten-Autoantikörper sind beispielsweise bei Agranulozytosen unter Procainamid (z.B. Pronestyl®) beobachtet worden. Bei den immunologisch bedingten Agranulozytosen hält die Sensibilisierung wahrscheinlich lebenslang an; geringste Dosen der betreffenden Substanz werden immer wieder eine Agranulozytose verursachen.

Toxische Einwirkungen
Medikamente, die auf nicht-immunologischem Weg zu einer Agranulozytose führen, hemmen oder schädigen vermutlich direkt die Knochenmarkszellen; man stellt sich vor, dass sich wegen eines verlangsamten Metabolismus toxische Konzentrationen ergeben oder dass die Granulozytenvorstufen auf normale Konzentrationen einer Substanz besonders sensibel reagieren.
Als Prototyp eines solchen Mittels gilt Chlorpromazin (z.B. Largactil®). Chlorpromazin vermag die Zellteilung zu beeinträchtigen, indem es Proteine denaturiert. Bei Patienten, die unter Chlorpromazin eine Agranulozytose erlitten hatten, liess sich experimentell (unabhängig von medikamentösen Einflüssen) eine abnorme Myelopoiese nachweisen.(4) Nach einer toxisch bedingten Agranulozytose kann das auslösende Medikament -- in einer niedrigen Dosierung -- später oft wiederverwendet werden, ohne dass sich diese Nebenwirkung zu wiederholen braucht.
Bei den meisten übrigen Medikamenten lässt sich der auslösende Mechanismus der Agranulozytose nicht ohne weiteres einem der beiden Typen zuordnen; in vielen Fällen werden sowohl immunologische wie toxische Mechanismen postuliert. Es ist auch beschrieben, dass Substanzen je nach Patient über verschiedene Mechanismen eine Agranulozytose hervorrufen.(2,3)

Epidemiologie

Seltene Nebenwirkungen wie Agranulozytosen sind bei der Einführung einer Substanz meistens nicht bekannt, sondern werden erst erfasst, wenn viele Tausende mit dem Medikament behandelt worden sind.
In der Regel informieren Fallberichte als erstes über einen Zusammenhang zwischen einem Medikament und einer Agranulozytose. Ein Zusammenhang ist wahrscheinlich, wenn das Medikament wenige Tage bis Wochen vor dem Auftreten der Agranulozytose verwendet wurde und sich das Blutbild binnen 1 bis 2 Wochen nach Absetzen des Mittels wieder erholt. Leider lässt sich aus Auskünften von Patienten oft nur wenig ableiten, da sie vergessen haben, was sie kürzlich eingenommen haben, oder gleich mehrere Substanzen verwendet haben. Fallberichte bilden aber, auch wenn sie nur einen vagen Verdacht äussern, Grundlage für grössere Untersuchungen. In Finnland(5) und Schweden(6,7) wurden Agranulozytosefälle über eine lange Zeitspanne gesammelt und retrospektiv beurteilt. Man sah, welche Medikamente mit dem Auftreten einer Agranulozytose assoziiert sind, und konnte Häufigkeitsziffern errechnen. Die schwedischen Studien ermittelten für medikamentenbedingte Agranulozytosen eine jährliche Inzidenz von 2,5 bis 9 pro Million. Ein Grossteil der Agranulozytosen liess sich auf Sulfonamide, Thyreostatika und Pyrazolone zurückführen. Es zeigte sich auch, dass Agranulozytosen bei älteren Leuten häufiger vorkommen als bei jüngeren, dass Frauen öfter betroffen sind als Männer und dass die Inzidenz trotz des wechselnden Medikamentenangebotes über Jahre ziemlich konstant bleibt. Die ersten beiden Punkte lassen sich vielleicht dadurch erklären, dass Ältere bzw. Frauen empfindlicher reagieren oder dass sie mehr Medikamente konsumieren als die anderen Bevölkerungsgruppen.

Die bislang umfassendste Untersuchung war die «International Agranulocytosis and Aplastic Anemia Study» («Boston- Studie»), eine grosse Fall-Kontroll-Studie, die in mehreren europäischen Agglomerationen sowie in Israel durchgeführt wurde und eine Population von mehr als 22 Millionen Menschen umfasste. Ein zentrales Anliegen der Studie war es, das Agranulozytoserisiko von Metamizol zu bestimmen; sie lieferte jedoch auch Zahlen zu anderen Medikamenten. Man errechnete eine gesamte jährliche Agranulozytoseinzidenz von 6,2 pro Million. Drei Medikamentengruppen -- Analgetika/Entzündungshemmer, Thyreostatika und Antibiotika -- wurden besonders analysiert. Eine signifikante Verbindung zwischen Medikamenteneinnahme und Agranulozytose ergab sich für Metamizol, Indometacin (z.B. Indocid®), Phenylbutazon (z.B. Butazolidin®) und Oxyphenbutazon (Oxybuton®, Rapostan®), für alle Thyreostatika sowie für Cotrimoxazol (Trimethoprim-Sulfamethoxazol, z.B. Bactrim®) und Makrolide (Erythromycin u.a.).(8-10) Die Studie ist allerdings wegen methodischer Mängel, welche die Ergebnisse verfälscht hätten (Auswahl der Kontrollen, diagnostische Kriterien u.a.), wiederholt kritisiert worden.(11,12)

Welche Medikamente können eine Agranulozytose verur - sachen?

In Tabelle 1 sind in der Schweiz erhältliche Substanzen genannt, bei denen Agranulozytosen beobachtet wurden. Die Tabelle basiert auf mehreren Übersichtsarbeiten;(2,3,13,14) ergänzend wurden Fallberichte aus den letzten Jahren einbezogen. (Die entsprechenden Literarhinweise sind jeweils in Klammern beigefügt.) Hervorzuheben sind die Betalaktam-Antibiotika, die in der Klinik -- wo sie oft in hohen Dosen verabfolgt werden -- wahrscheinlich häufigste Ursache von Agranulozytosen sind.

Nicht berücksichtigt sind in der Tabelle Mittel, unter denen zwar leichtere Neutropenien, jedoch keine Agranulozytosen vorgekommen sind. Die Einteilung der Medikamente folgt dem Kapitel «Unerwünschte Wirkungen von Medikamenten » im Schweizer Arzneimittel-Kompendium.(15)

Klinik

Symptome einer Agranulozytose sind Fieber, Schüttelfrost, Muskelschmerzen und Entzündungen der Schleimhäute (Pharyngotonsillitis, ulzeröse Stomatitis, Proktitis). Einige Medikamente, die Agranulozytosen verursachen, werden gerade bei solchen Symptomen verwendet; sie können also einen Teufelskreis in Gang setzen. Eine immunologisch ausgelöste Agranulozytose manifestiert sich innerhalb kurzer Frist; wenn jemand das betreffende Mittel schon einmal eingenommen hat und sensibilisiert worden ist, genügt sogar eine einzige erneute Dosis. Ist die Agranulozytose das Resultat eines toxischen Mechanismus, kann es Wochen oder Monate dauern, bis Symptome auftreten (die in diesem Fall oft weniger stark ausgeprägt sind).
Die Diagnose einer Agranulozytose fällt anhand des peripheren Blutbildes relativ leicht. Findet man gleichzeitig eine Anämie oder Thrombozytopenie, muss man auch an andere Diagnosen denken (aplastische Anämie, aleukämische Leukämie). Leider stehen keine Routinemethoden zur Verfügung, um das für eine Agranulozytose verantwortliche Medikament sicher zu identifizieren. Die ursprünglich beschriebenen Agglutinationsteste fallen nur bei wenigen Patienten und nur in den ersten Stunden bis Tagen positiv aus.

Therapie

Wenn eine Agranulozytose auftritt, sind alle Medikamente sofort abzusetzen; bei lebensnotwendigen Therapien sollte auf andere, chemisch nicht verwandte Substanzen gewechselt werden. Da die Patienten stark infektgefährdet sind, müssen sie hospitalisiert und eventuell isoliert werden; bei Fieber sind Breitbandantibiotika indiziert. Trotz der modernen intensivmedizinischen Möglichkeiten liegt die Mortalität noch bei etwa 10%. In der Regel werden die neutrophilen Granulozyten im Blut innerhalb von 1 bis 2 Wochen spontan wieder auf normale Werte ansteigen, so dass sich spezifische Massnahmen erübrigen; der Nutzen von Granulozytentransfusionen ist nicht dokumentiert.

Prophylaxe

Medikamentenbedingte Agranulozytosen werden sich nie vollständig eliminieren lassen. Um schwere Verläufe und Todesfälle zu verhüten, wird folgendes geraten: Falls man längerfristig ein Medikament mit einem erwiesenen Agranulozytoserisiko verabreicht, sollte man -- zumindest während der ersten Monate -- regelmässig (alle 1 bis 2 Wochen) das Blutbild kontrollieren; dies empfiehlt sich auch, wenn neue, wenig erprobte Substanzen eingesetzt werden. Blutbildkontrollen sind sodann bei medikamentös behandelten Patienten mit hohem Fieber oder ausgeprägten Erkältungssymptomen notwendig, weil die Zeichen einer Agranulozytose in diesem Fall maskiert werden können.(16) Patienten, die eine Agranulozytose erlitten haben, sollten einen Notfallausweis erhalten, in dem die verdächtigten bzw. verantwortlichen Medikamente sowie allfällige Alternativpräparate genannt sind.

Literatur

  1. 1) Finch SC. In: Williams WJ et al, eds. Hematology. New York: McGraw-Hill, 1986: 773-93
  2. 2) Young GAR, Vincent PC. Clin Haematol 1980; 9: 483-504
  3. 3) Heimpel H. Med Toxicol 1988; 3: 449-62
  4. 4) Pisciotta V. Drugs 1978; 15: 132-43
  5. 5) Palva IP, Mustala OO. Acta Med Scand 1970; 187: 109-15
  6. 6) Böttiger LE et al. Acta Med Scand 1979; 205: 457-61
  7. 7) Arneborn P, Palmblad J. Acta Med Scand 1982; 212: 289-92
  8. 8) The International Agranulocytosis and Aplastic Anemia Study. JAMA 1986; 256: 1749-57
  9. 9) The International Agranulocytosis and Aplastic Anaemia Study. Br Med J 1988; 297: 262-5
  10. 10) The International Agranulocytosis and Aplastic Anemia Study. Arch Intern Med 1989; 149: 1036-40
  11. 11) Kramer MS. J Chron Dis 1987; 40: 1073-81
  12. 12) Imperiale TF, Horwitz RI. Biomed Pharmacother 1989; 43: 187-96
  13. 13) Biour M et al. Thérapie 1986; 41: 129-33
  14. 14) Vincent PC. Drugs 1986; 31: 52-63
  15. 15) Meier PJ, Schelling JL. In: Morant J, Ruppaner H, eds. Arzneimittel-Kompendium der Schweiz 1990 (Registerband). Basel: Documed, 1989: 349-438
  16. 16) Heimpel H. Diagn Intensivther 1982; 7: 77-90
  17. 17) Perrichot R et al. Presse Méd 1990; 19: 764
  18. 18) Wishner AJ, Milburn PB. J Am Acad Dermatol 1985; 13: 1052-3
  19. 19) García S et al. Drug Intell Clin Pharm 1988; 22: 1003
  20. 20) Sakai J, Joseph MW. N Engl J Med 1978; 298: 1203
  21. 21) Stricker BHCh et al. Br Med J 1986; 293: 1074
  22. 22) Collier PM. Br Med J 1986; 292: 174
  23. 23) Harvey RL, Luzar MJ. Ann Intern Med 1988; 108: 214-5
  24. 24) Berg PA et al. Dtsch Med Wochenschr 1988; 113: 1478-81
  25. 25) Adrouny A et al. Am J Med 1986; 81: 1059-61
  26. 26) Goldsmith JC, Irvine W. Am J Hematol 1989; 30: 263-4
  27. 27) Waisman M. J Am Acad Dermatol 1988; 18: 395-6
  28. 28) Corda C et al. Thérapie 1990; 45: 161

Standpunkte und Meinungen

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Medikamentenbedingte Agranulozytosen (14. Juli 1990)
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