Noch ein Wort zu alternativen Heilmethoden

ceterum censeo

Mein «Plädoyer für eine rationale Therapie» hat mir eine ganze Anzahl von Reaktionen eingebracht. Neben Zustimmung sind auch Anregungen und Bedenken zum Ausdruck gekommen. Echos aus dem Kreis der Leserinnen und Leser machen mir immer grosse Freude. Oft bedaure ich es, dass uns das knappe pharma-kritik-Format im allgemeinen nicht erlaubt, Leserbriefe abzudrucken. Ich rechne aber damit, dass unsere «Korrespondenten» für den äusserst sparsamen Umgang mit pharma-kritik-Raum Verständnis haben.
Die Briefe, die mir in der letzten Zeit zugekommen sind, beschäftigen sich in erster Linie mit Bedeutung und Nutzen alternativer Heilmethoden. Stellvertretend für die Meinung mehrerer Kollegen folgt hier ein Kommentar aus der Feder von Dr. Fritz Bieri (Jona):

«Ich bin ganz einverstanden, dass sowohl Arzt als auch Patienten die Medizin, die wir an der Universität lernen, gut finden können. Indessen gibt es da seit vielen Jahrzehnten eine divergierende politische Entwicklung. Diese hat dazu geführt, dass manche Patienten heute ihre Therapie in der Weise wählen möchten, wie man eine politische Partei wählt. Damit ist auch schon gesagt, dass man dauernd in der Defensive bleiben wird, wenn man seinen Standpunkt nicht ändert. Die Patienten interessiert nicht, dass es über alternative Heilmethoden keine oder nur sehr wenige Statistiken gibt. Niemand weiss, dass die recht populäre Irisdiagnostik seit 100 Jahren von Seiten der Heilpraktiker praktisch oder ganz ohne Statistiken ausgekommen ist. Man stösst hier auf eine ganz wichtige Entwicklung, nämlich die Tatsache, dass der Mann von der Strasse und damit sehr viele Patienten einerseits von den modernen statistischen Methoden gar nichts wissen, anderseits diese möglicherweise sogar verachten. Die Medien spielen hierbei eine ganz bedeutende Rolle.
Wenn wir aus der Isolation und aus der Defensive heraus wollen, müssen wir versuchen, diese alternative Medizin selbst zu praktizieren. Wahrscheinlich ist nicht jede dieser therapeutischen Methoden gleich zu behandeln. Man muss wohl davon ausgehen, dass wir eine lange Periode einer chaotischen Fehlentwicklung hinter uns haben. Deswegen glaube ich auch, dass bei diesen sogenannten Alternativen manche interessante Ansätze vorhanden sind. Ich habe den Eindruck, dass die Akupunktur einmal eine moderne Wissenschaft werden könnte.
Die heutige Situation rund um die Medizin ist innerhalb der Ärzte durch einen tiefen Graben geprägt, welcher die Befürworter und die Ablehnenden trennt. Diese Haltung ist in jeder Beziehung kontraproduktiv. Ich glaube, dass einerseits wissenschaftlich und letzten Endes auch therapeutisch vielleicht doch einiges zu machen wäre, wobei man jedoch die Fehler der Heilpraktiker, besonders in methodischer Hinsicht, berichtigen müsste. Anderseits kommen wir in gesellschaftlicher Hinsicht nie aus der Defensive heraus, wenn wir die Situation so lassen, wie sie jetzt ist. Und Defensive bedeutet letzten Endes eine Niederlage.»

Als Antwort auf diese Stellungnahme von Dr. Bieri möchte ich meine früheren Bemerkungen noch einmal präzisieren. Es ist nicht so, dass ich alternative Methoden allgemein missbillige; ich halte es auch durchaus für möglich, dass die eine oder andere dieser Methoden einen objektivierbaren Nutzen erbringt, der mehr als einem Placeboeffekt entspricht. Zudem wäre es falsch, ganz verschiedene Verfahren -- Akupunktur, Homöopathie, Fussreflexzonenmassage usw. -- «in einen Topf» zu werfen. Placeboeffekte sind im übrigen gar nicht zu verachten. Ich freue mich über jede Wirkung -- gleichgültig, ob spezifisch oder unspezifisch --, die meinen Patienten hilft. Ich muss auch gestehen, dass ich persönlich keinen eigentlichen Graben zwischen meiner naturwissenschaftlich orientierten Medizin und alternativer Medizin oder Paramedizin spüre.
Eine rationale Medizin zu praktizieren, heisst nicht, irrationale menschliche Bedürfnisse unberücksichtigt zu lassen. Im Gegenteil: je genauer uns Körper, Psyche und soziales Umfeld eines Menschen bekannt sind, desto bessere Voraussetzungen haben wir, bei der Behandlung den ganzen Menschen zu berücksichtigen. «Tender Loving Care» heisst das Schlagwort, welches sich weit besser mit umsichtigem Abwägen als mit dem Haschen nach Effekten zweifelhafter Art verträgt.
Die naturwissenschaftlich verstandene Medizin zeichnet sich nämlich durch eine ganz besondere Qualität aus: sie sieht die Grenzen ihrer Möglichkeiten (und sucht diese auch genauer zu definieren bzw. zu erweitern). Diese kritische Haltung stellt die Grundlage dar, weshalb eine rationale Medizin verteidigt werden kann (nicht verteidigt werden muss). Für einen grossen Teil der alternativen Methoden fehlt eine solche Grundlage; solche Methoden kann man nur -- ohne rationale Begründung -- akzeptieren oder ablehnen. Glücklicherweise sind viele dieser Methoden wenig aggressiv und können damit unter dem Motto «Hilft’s nichts, so schadet’s nichts» akzeptiert werden. Es ist aber ein fundamentales ärztliches Anliegen, zu wissen (und nicht nur zu glauben), dass und wann bestimmte therapeutische Verfahren nützen. Ich bin daher soweit mit Dr. Bieri einig, als ich überzeugt bin, dass jedes erfolgversprechende Verfahren einer kritischen Würdigung wert ist und bei nachgewiesenem Nutzen auch in unsere Medizin integriert werden sollte.
Solange jedoch der Nutzen einer alternativen Methode nicht nachgewiesen ist, solange hätte ich auch grosse Mühe, diese Methode zu praktizieren. Frauen und Männer, die in meine Praxis kommen, schätzen meine kritische Haltung den Medikamenten gegenüber. Dass ich auch andere therapeutische Verfahren mit kritischen Augen sehe, überrascht sie nicht. Manchmal berichten sie mir über Erfolge oder Misserfolge, die sie mit alternativen oder paramedizinischen Methoden erlebt haben. Jede Frau, jeder Mann soll die ihm zusagenden Therapeuten und Therapien frei wählen können. Als Patient könnte ich mir aber nichts besseres wünschen als einen Arzt, der kritisch und zurückhaltend eine wirklich rationale Medizin praktiziert.

Standpunkte und Meinungen

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Noch ein Wort zu alternativen Heilmethoden (28. September 1989)
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pharma-kritik, 11/No. 18
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