Vitamin A und Schwangerschaft

Synopsis

In den letzten Jahren ist wiederholt auf die teratogenen Wirkungen von Vitamin A-Säurederivaten hingewiesen worden. Die Frage ist deshalb berechtigt, ob Vitamin A selbst ebenfalls zu Fehlbildungen führen kann.

Vorkommen und Verhalten im Körper

Der Vitamin A-Alkohol (all-trans-Retinol) ist die biologisch aktivste Form der verschiedenen natürlich vorkommenden Vitamin A-Analoge. In veresterter Form (als Retinylester) kommt das Vitamin in tierischen Geweben (besonders in der Leber), in der Milch und in Eiern vor. Karotten, weniger auch andere Gemüse, enthalten b-Carotin, welches in der Darmschleimhaut zu Retinol umgewandelt wird. Vitamin A wird in der Leber gespeichert; nach Bedarf wird Retinol mobilisiert und mit einem speziellen Protein (dem «retinolbindenden Protein») transportiert. Nach Zufuhr einer grösseren Dosis Retinol kann es viele Monate dauern, bis diese Menge aus der Leber wieder mobilisiert wird.
Unter dem Begriff «Retinoide» werden heute die natürlich vorkommenden Substanzen mit Vitamin A-Aktivität und synthetische Retinolderivate zusammengefasst. Synthetische Retinoide wie Etretinat (Tigason®) und Isotretinoin (Roaccutan®) werden -- im Gegensatz zu Retinol -- im Plasma nicht an das retinolbindende Protein, sondern an Albumine gebunden. Diese Tatsache ist wahrscheinlich für die toxischen Effekte dieser Retinoide verantwortlich; auch das natürliche Vitamin kann zu toxischen Auswirkungen führen, wenn die Kapazität des retinolbindenden Proteins überfordert ist (z.B. nach Vitamin A-Megadosen). (1)

Wirkungen der Retinoide

Retinoide besitzen eine ausgeprägte Wirkung auf die Differenzierung und Proliferation von Zellen. So ist Vita-min A für das Wachstum und den Normalzustand und Funktionen der Epithelien verantwortlich. Man nimmt an, die Retinoide übten ihre Wirkung durch einen Einfluss auf die genetische Expression der Zellen aus. Auch die toxischen und teratogenen Effekte beruhen wahrscheinlich auf diesem Mechanismus.
Die Aldehydform (Retinal) ist zusammen mit Opsin am Sehprozess beteiligt.

Vitaminbedarf

Die Vitamin A-Dosis wird meistens in internationalen Einheiten (IE) angegeben. Eine IE Vitamin A entspricht der Aktivität von 0,3 mg Retinol. Für Erwachsene wird eine tägliche Zufuhr von 4000 bis 5000 IE empfohlen. Eine ausgewogene Mischkost enthält etwa 7500 IE Vitamin A pro Tag. Um toxische Effekte zu vermeiden, soll die chronische Einnahme höherer Dosen vermieden werden. (Eine überreichliche Zufuhr von pflanzlichem b-Carotin ist allerdings problemlos, da die Umwandlung von Carotin in Retinol durch hohe Carotinmengen gehemmt wird.)

Multivitaminpräparate

Die meisten in der Schweiz erhältlichen Multivitaminpräparate enthalten 4000 bis 6000 IE Vitamin A (Retinol) pro galenische Einheit; einige enthalten aber höhere Dosen, siehe Tabelle 1. Viele dieser Präparate werden für die Anwendung in der Schwangerschaft empfohlen, obwohl keine sicheren Anhaltspunkte vorliegen, dass schwangere Frauen mehr Vitamin A als andere Personen benötigen. Auffällig ist der Gegensatz zwischen zwei Patienten-Informationstexten der gleichen Firma: Zu Elevit® Pronatal, welches 6000 IE pro Tablette enthält, wird gesagt, bei vorschriftsgemässer Anwendung sei die Unschädlichkeit des Präparates für das werdende Kind «erwiesenermassen auch für die kritischen ersten drei Schwangerschaftsmonate » gewährleistet. Anderseits warnt der Text zu Supradyn ® N (mit 3333 IE/Einheit) ausdrücklich vor einer möglichen Schädigung des Foeten durch hohe Vitamin A-Dosen; das Präparat soll «nur mit ausdrücklichem Einverständnis des Arztes» eingenommen werden!
Nur Maxivit® enthält zurzeit noch 25’000 IE Vitamin A pro Dragée oder pro Brausetablette. Diese Megadosis soll nächstens auf 5000 IE/Einheit reduziert werden.

Kann Vitamin A Fehlbildungen erzeugen?

Das teratogene Potential der Vitamin A-Säurederivate ist beträchtlich; das Risiko, dass ein Isotretinoin-exponierter Foetus Fehlbildungen entwickelt, beträgt rund 25%. (Bei Thalidomid wurde das entsprechende Risiko auf 20% geschätzt.(2) )Dokumentiert sind zwar kaum 100 Fälle; Experten meinen aber, die tatsächliche Fallzahl sei viel grösser. (3) In Tabelle 2 sind die wichtigsten Isotretinoin-bedingten Fehlbildungen zusammengestellt. Unter Etretinat ist das Fehlbildungsmuster ähnlich; Herzanomalien sind aber bisher unter Etretinat nicht beschrieben worden.(4)
Mindestens 100 Studien mit Tierversuchen haben auch eindeutig dokumentiert, dass Vitamin A (Retinol) in sehr hohen Dosen (5 bis 10 Mio. IE) Fehlbildungen hervorruft, die denjenigen unter therapeutischen Dosen von synthetischen Retinoiden entsprechen.(5)
Dagegen sind bisher beim Menschen nur Einzelfälle bekannt, in denen ein Zusammenhang zwischen der Einnahme von Vitamin A-haltigen Präparaten in der Schwangerschaft und angeborenen Fehlbildungen vermutet wird.(5-7) 12 solche Fälle sollen der amerikanischen Arzneimittelbehörde (FDA) gemeldet worden sein; 6 weitere Fälle sind publiziert worden. Das Fehlbildungsmuster entsprach dabei ungefähr den in den Tierversuchen beobachteten Befunden, d.h. es fanden sich Fehlbildungen des Zentralnervensystems, Gaumen- oder Lippenspalten und Anomalien des Harntrakts. Die während der kritischen Schwangerschaftsphase eingenommenen Vitamin A-Dosen betrugen zwischen 18’000 und 500’000 IE pro Tag.
Gemäss einer Fall-Kontroll-Studie, die 12’296 Neugeborene mit Fehlbildungen erfasste, steigt das Fehlbildungs- Risiko mit höheren Vitamin A-Dosen an. Diese Studie ist aber bisher erst sehr summarisch rapportiert worden.(8)
Somit ist Vitamin A bis jetzt nicht eindeutig als Ursache von menschlichen Fehlbildungen identifiziert, kann aber -- besonders in höheren Dosen -- auch nicht als sicher harmlos bezeichnet werden. Die amerikanische Teratology Society hat 1987 empfohlen, mit Vitaminpräparaten während der Schwangerschaft maximal 8000 IE Vitamin A pro Tag zu verabreichen.(9) In vielen Ländern (auch in der Schweiz) streben die Arzneimittelbehörden heute an, die in Multivitaminpräparaten enthaltene Vitamin A-Dosis zu senken. In der Bundesrepublik Deutschland gilt seit 1988 für Präparate, die in der Schwangerschaft empfohlen werden, eine Obergrenze von 7500 IE Vitamin A (als Retinol) pro galenische Einheit.(10)

Schlussfolgerungen

Für Frauen mit ausgewogener Ernährung besteht allgemein und auch in der Schwangerschaft kein Bedarf, Vitamin A zusätzlich in Form von Medikamenten einzunehmen. Obwohl zurzeit ein Zusammenhang zwischen der Einnahme von Vitamin A-haltigen Supplementen in der Schwangerschaft und angeborenen Fehlbildungen nicht generell gegeben ist, muss vermutet werden, dass das Risiko mit steigenden Vitamin A-Dosen zunimmt. Es wäre deshalb wünschenswert, dass die Vitamin A-Dosis in Multivitaminpräparaten allgemein auf 3000 bis maximal 5000 IE (pro galenische Einheit) gesenkt würde. Die Patienten-Informationstexte sollten generell auf das mögliche Fehlbildungsrisiko hinweisen und von einer Dosissteigerung abraten. Vitamin A-Megadosen sind bei Frauen während des fortpflanzungsfähigen Alters kontraindiziert. Das Beispiel der für schwangere Frauen bestimmten Multivitaminpräparate illustriert einmal mehr die Problematik einer ungezielten, unkritischen Behandlung mit Kombinationspräparaten, die Substanzen von höchst unterschiedlichem Wert enthalten.

Literatur

  1. 1) D.S. Goodman: N. Engl. J. Med. 310: 1023, 1984
  2. 2) C.E. Orfanos et al.: Drugs 34: 459, 1987
  3. 3) E.J. Lammer et al.: Lancet 2: 503, 1988
  4. 4) M. David et al.: Med. Toxicol. 3: 273, 1988
  5. 5) F.W. Rosa et al.: Teratology 33: 335, 1986
  6. 6) F.W. Rosa et al.: Teratology 36: 272, 1987
  7. 7) I.B. Bernhardt und D.J. Dorsey: Obstet. Gynecol. 43: 750, 1974
  8. 8) M.L. Martínez-Fríaz und J. Salvador: Lancet 1: 236, 1988
  9. 9) Teratology Society Position Paper: Teratology 35: 269, 1987
  10. 10) G. Laschinski und H. Spielmann: Geburtsh. Frauenheilk. 48: 196, 1988

Standpunkte und Meinungen

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Vitamin A und Schwangerschaft (28. April 1989)
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pharma-kritik, 11/No. 08
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