Tatsachen und Meinungen

Bei der Beurteilung von klinischen Studien und Meta-Analysen wäre es ideal, wenn sich Tatsachen und Meinungen klar trennen liessen. Die Resultate und allfällige zusätzliche Daten sollten den Tatsachen, die Diskussion oder Interpretation den Meinungen entsprechen. Das Problem ist, dass eine solche saubere Trennung in der Regel nicht möglich ist.

Betrachtet man z.B. eine einzelne Studie, in der ein neues Medikament mit einem anderen, bereits «etablierten» Medikament verglichen wurde, so beruht meistens schon die Fragestellung auf bestimmten Annahmen. Die Wirksamkeit auch «etablierter» Medikamente ist in den seltensten Fällen ganz eindeutig bekannt – ist beispielsweise die plättchenhemmende Wirkung von 100 mg Acetylsalicylsäure grösser als diejenige von 75 mg (im angelsächsischen Raum oft verwendet)? Soll gezeigt werden, dass ein neuer Entzüdungshemmer wirksamer ist als ein Standardmedikament wie Diclofenac (Voltaren® u.a.), so ist die Versuchung gross, eine Diclofenac-Tagesdosis von 75 oder 100 mg (und nicht von 125 oder 150 mg) zu wählen. Selbstverständlich entstehen so völlig korrekte Resultate; diese beziehen sich aber auf eine relativ kleine Vergleichsdosis. Wird dereinst mit den Studienresultaten für das neue Medikament geworben, so tritt der Aspekt der kleinen Vergleichsdosis ganz in den Hintergrund. Mit anderen Worten: Da die Vergleichsdosis mindestens teilweise eine Ermessensfrage ist, werden formal korrekte Daten und die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen durch «Meinungen» beeinflusst.

Bei vielen Erkrankungen muss man sich zudem bewusst sein, dass man durch «weiche» Endpunkte von Studien massiv irregeführt werden kann. In dieser Hinsicht sind Beurteilungsskalen, wie sie besonders in der Psychiatrie (aber auch in mehreren anderen Disziplinen) verwendet werden, besonders problematisch. Die Punktewerte in solchen Skalen beruhen weitgehend auf dem Ermessen der «Erfinder» der Skalen. Ist eine solche Skala einmal bei den Fachleuten (und bei den Arzneimittelbehörden) eingeführt, so lässt sie sich kaum mehr «ausrotten», selbst wenn es für jedermann offensichtlich ist, dass sie die Symptomatik oder Intensität einer Erkrankung nicht adäquat erfasst. Dies ist zum Beispiel der Fall bei der sogen. Hamilton-Skala («Hamilton Rating Scale for Depression»): Obwohl eine unbefangene Analyse dieser Skala schnell erkennen lässt, dass die eigentlich depressiven Symptome ungenügend gewichtet werden, wird diese Skala weiterhin als ein universeller Goldstandard der Depressionsbeurteilung angewandt. Es gibt zwar kritische Stimmen;(1) diese haben sich aber nicht durchsetzen können.

Aber auch Surrogat-Endpunkte, die klinischen oder Labor-Befunden entsprechen, können täuschen. So ist nach den heute vorliegenden Daten am Nutzen einer intensiven «Normalisierung» des Glukosestoffwechsels – d.h. eine Senkung des HbA1c auf Werte von 6 oder weniger – zu zweifeln. Jedenfalls konnte bisher für HbA1c-Werte unter 7 nicht überzeugend gezeigt werden, dass dies zu einer Abnahme makrovaskulärer Komplikationen führen würde.(2) Somit kann die Vermutung, eine HbA1c-Senkung entspreche in jedem Fall einem klinischen Vorteil, nicht aufrechterhalten werden. Neuere Antidiabetika, deren «Nutzen» einzig anhand der HbA1c-Senkung demonstriert ist, sollten bis zum Nachweis eines klinisch überzeugenden Nutzens nur sehr zurückhaltend eingesetzt werden. Dies gilt natürlich besonders seit den negativen Erfahrungen mit Rosiglitazon (Avandia®).

Wird in einer Studie ein bestimmter Vorteil – z.B. eine bessere Magenverträglichkeit – erwartet, so besteht das Risiko, dass die Studie in ihren Endpunkten exklusiv auf diesen Vorteil ausgerichtet wird. Diese Orientierung kann zur Folge haben, dass die Studie in Bezug auf andere (allenfalls gar nicht als Endpunkte definierte) Ereignisse zu wenig aussagekräftig ist, d.h. zu wenig statistische «Power» aufweist. So kann es dann kommen, dass klinisch relevante (aber seltenere) kardiovaskuläre Ereignisse als nicht-signifikant erscheinen und fälschlicherweise vernachlässigt werden. Die Studien mit Rofecoxib (Vioxx®) sind dazu ein eindrucksvolles Lehrbeispiel.

Dass die Diskussion der Resultate nicht unabhängig von vorgefassten Meinungen und allfälligen Interessenkonflikten erfolgt, versteht sich fast von selbst. Dabei gilt es, besonders auf die initial definierten primären Endpunkte der Studie zu achten. Wurden für diese Endpunkte keine signifikanten Ergebnisse gefunden, weichen die Studienverantwortlichen nicht selten auf sekundäre Endpunkte aus. Ist beispielsweise bei einem kardiovaskulär aktiven Medikament ein kombinierter primärer Endpunkt – Herzinfarkt, Hirnschlag, kardiovaskulär bedingter Tod – definiert und dieser Endpunkt wird nach den Studienresultaten nicht vorteilhaft beeinflusst, so findet sich meistens ein sekundärer Endpunkt (z.B. die Häufigkeit von revaskularisierenden Eingriffen), für den sich eine günstige Auswirkung ergeben hat. Statt genauer zu analysieren, weshalb die Studie das primäre Ziel nicht erreicht hat, konzentriert sich die Diskussion dann häufig auf die positive Wirkung auf den sekundären Endpunkt. Auch hier ist zu beachten, dass Studien in ihrer statistischen Aussagekraft auf den primären Endpunkt ausgerichtet sind, weshalb sekundäre Endpunkte von geringerem Wert sind.

Eine wichtige Aufgabe von Publikationen wie der «pharma-kritik» ist es, aufgrund der Daten eine eigene, von Interessen unbeeinflusste Interpretation zu erarbeiten. Auch diese Interpretation ist natürlich eine «Meinung», die grundsätzlich ebenfalls Irrtümer enthalten und von bestimmten Überzeugungen mitbeeinflusst sein kann. Im Unterschied zu Interpretationen seitens der Studienverantwortlichen, der Arzneimittelhersteller und der Krankenversicherungen handelt es sich aber um eine Meinung, die sich ganz entscheidend an den Interessen des kranken Menschen orientiert. Dass wir dabei die Tatsache berücksichtigen, dass die Ressourcen auch im Gesundheitsbereich nicht unerschöpflich sein können, ist selbstverständlich.
Neben den Ergebnissen einzelner klinischer Studien spielen heute systematische Übersichten und Meta-Analysen eine wichtige Rolle. Diese dienen idealerweise dem Erkennen von Vor- oder Nachteilen von Verfahren, die in den einzelnen Studien nicht mit genügender Sicherheit identifiziert werden können. Die Auswahl der dabei berücksichtigten Studien erfolgt nach genauen Regeln, um nach Möglichkeit genügend homogene Daten auswerten zu können. Für diese Regeln gibt es jedoch keine universell gültigen Richtlinien – die Autorinnen und Autoren einer Meta-Analyse verfügen daher in Bezug auf die Ein- und Ausschlusskriterien über einen Ermessensspielraum, der sich notwendigerweise auf die Resultate der Meta-Analyse auswirkt. Damit ist klar, dass auch hier «Meinungen» (bestimmte Annahmen) in die «Tatsachen» (die Resultate der Meta-Analyse) miteinfliessen. So erklärt sich, weshalb zu einer konkreten Frage nicht selten widersprüchliche Resultate verschiedener Meta-Analysen vorliegen. Die Überlegungen zu den ungenügend gesicherten Qualitäten von Beurteilungsskalen, die ich bei den Einzelstudien erwähnt habe, wirken sich selbstverständlich auch bei Meta-Analysen aus. Ganz einfach ist beispielsweise nicht zu erkennen, ob die «Cholinesterasehemmer-freundliche» Meta-Analyse einer britischen Autorin – in der Cochrane Library publiziert –,(3) wirklich besser fundiert ist als eine weniger «Cholinesterasehemmer-freundliche» Meta-Analyse deutscher Autoren, die etwa zur gleichen Zeit veröffentlicht wurde.(4) Es ist jedenfalls nicht falsch, Meta-Analysen allgemein mit einer gesunden Dosis Skepsis anzusehen.

Es gibt noch ein weiteres Problem, weshalb wir aus einer meta-analytisch hergeleiteten Evidenz nicht automatisch auf den Nutzen eines Verfahrens oder eines Arzneimittels schliessen können. Im Gegensatz zu den Studiendaten, die sich in einer Meta-Analyse quasi zuverlässig auswerten lassen, existieren klinisch relevante Daten, die sich in den Studien oft nicht adäquat erfassen lassen. Dazu gehören insbesondere mehr oder weniger seltene unerwünschte Wirkungen eines Verfahrens. Zwei Gründe sind dafür verantwortlich, dass sich diese nicht meta-analytisch beurteilen lassen. Da ist erstens die Tatsache, dass viele Studien auf Personen beschränkt sind, bei denen (hoffentlich) möglichst wenig unerwünschte Wirkungen auftreten. Später, in der Praxis, wird das Medikament aber auch bei Personen angewandt, die – z.B. wegen Begleitkrankheiten – gar nicht in die Studien aufgenommen worden wären. Treten nun Probleme auf, sind diese nicht wie in Studien systematisch erfassbar. Zweitens ist zu berücksichtigen, dass immer nur vergleichsweise wenige an Studien teilnehmen, das Medikament aber nachher vielen verabreicht wird. Das heisst: selbst wenn diese vielen auch exakt den Studienkriterien entsprochen hätten, werden nun möglicherweise seltenere Nebenwirkungen, in den Studien nicht erfasst, manifest. Auch die Cochrane Library ist keineswegs vor diesem Problem gefeit. Ist es wirklich sinnvoll, Chinin ohne weitere Einschränkung als «einigermassen wirksame» Behandlung für ein vergleichsweise gutartiges Problem wie Wadenkrämpfe zu bezeichnen,(5) wenn es – selten – auch gefährliche Nebenwirkungen von Chinin gibt? Ganz allgemein lässt sich der Nutzen eines Medikamentes oder einer anderen therapeutischen Massnahme wohl nicht von mathematisch errechneter Evidenz herleiten. Für unsere Zeitschrift sind auch seltene, aber gefährliche unerwünschte Wirkungen ein wichtiger Grund, weshalb ein Medikament nur mit grosser Zurückhaltung oder gar nicht verschrieben werden sollte.

Standpunkte und Meinungen

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Tatsachen und Meinungen (28. Februar 2011)
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pharma-kritik, 32/No. 11
PK789
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