Quadrivalenter Konjugat- Meningokokken-Impfstoff

Unter dem Namen Menveo® ist neu ein quadrivalenter Konjugat-Impfstoff (MCV-ACWY) zur Prävention von invasiven Meningokokken-Erkrankungen (IME) erhältlich. Die Bezeichnung MCV-ACWY entspricht dem englischen Begriff «meningococcal conjugate vaccine against serotypes A, C, W135 and Y».

Jedes Jahr erkranken weltweit mehr als eine halbe Million Personen an einer IME und etwa 10% sterben daran. Besonders betroffen ist das Sahelgebiet in Afrika während der Trockenzeit. In der Schweiz wurden in den letzten Jahren um die 70 Fälle pro Jahr registriert. Am häufigsten sind Säuglinge und Kinder bis zu 5 Jahren sowie Jugendliche zwischen 15 und 19 betroffen. In Afrika werden die meisten Erkrankungen durch Meningokokken der Serogruppe A verursacht; in Europa sind die Serogruppen B und C am wichtigsten. Die Inzidenz bei Reisenden ist sehr gering; sie wird pro Monat Aufenthalt in einem Endemiegebiet auf etwa 4 Erkrankungen pro 100'000 Personen geschätzt.(1) Wegen des sehr hohen Ansteckungsrisikos ist eine quadrivalente Impfung für Mekka-Pilger obligatorisch. Personen mit Immunschwäche, Komplementmangel-Syndromen und Asplenie (Status nach Splenektomie!) weisen ein erhöhtes Risiko einer IME auf.

Impfstoff

Der bisher in der Schweiz erhältliche quadrivalente Meningokokken-Impfstoff ist ein Polysaccharid-Impfstoff (MPV-ACWY, Mencevax®). Dieser weist verschiedene Nachteile auf (geringe Wirksamkeit bei Kleinkindern, Möglichkeit einer immunologischen Hyporeaktivität bei Revakzination, kein Schutz vor Besiedelung des Nasen-Rachenraums).(2)

Der neue Impfstoff MCV-ACWY ist wie die monovalenten Impfstoffe gegen den Meningokokken-Serotyp C (MCV-C, z.B. Menjugate®) ein Konjugat-Impfstoff. Der Impfstoff enthält kapsuläre Oligosaccharide von Neisseria meningitidis der Serogruppen A, C, W135 und Y. Diese sind an eine nicht-toxische Mutante des Diphtherietoxins (CRM197), die als Trägerprotein dient, gebunden. Die Oligosaccharide der Serogruppe A sind lyophilisiert, diejenigen der Serogruppen C, W135 und Y hingegen in der Injektionslösung bereits aufgelöst. Der Impfstoff enthält keine Adjuvantien wie Thiomersal oder Aluminium.

Studien

Daten zur klinischen Wirksamkeit von Menveo® liegen nicht vor. Die Immunantwort – ein Surrogatparameter für die Wirksamkeit – wird in der Regel ein Monat nach der Impfung aufgrund der bakteriziden Aktivität des Serums beurteilt.(3) Der Impfstoff wurde vorwiegend in den USA geprüft und dabei mit zwei anderen quadrivalenten Impfstoffen verglichen, die beide in der Schweiz nicht erhältlich sind: Menactra® ist ein anderer Konjugat-Impfstoff und Menomune® ist ein Polysaccha­rid-Impfstoff. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Menveo® diesen beiden Impfstoffen bezüglich Immunantwort statistisch nicht unterlegen ist.

1631 Jugendliche im Alter von 11 bis 18 Jahren wurden mit 1 Dosis Menveo®, 539 mit 1 Dosis Menactra® geimpft. In beiden Gruppen konnte ein Monat nach der Impfung bei rund 75% der Geimpften eine ausreichende Immunantwort nachgewiesen werden.(4)

In einer weiteren Studie wurden 319 Jugendliche mit Menveo®  und 205 mit Menomune® geimpft. Die Immunantwort nach Menveo® war statistisch signifikant besser als nach Menomune®. Hinsichtlich der Serogruppen C, W135 und Y bestand noch ein Jahr nach der Impfung ein signifikanter Unterschied zwischen den beiden Impfstoffen.(5)

Bei 50 bis 67% von 963 mit Menveo® geimpften Erwachsenen im Alter von 19 bis 55 Jahren konnte eine ausreichende Immunantwort nachgewiesen werden; bei den 321 mit Menactra® geimpften Personen waren es 40 bis 68%.(6) Auch bei Personen im Alter zwischen 56 und 65 Jahren ergab sich mit Menveo® ähnlich häufig eine ausreichende Immunität wie mit Menomune®.(7)

Eine gute Immunogenität von Menveo® konnte nach drei Dosen bei Säuglingen dokumentiert werden.(8) In einer weiteren Studie konnte bei Kindern im Alter von 2 bis 10 mit einer Dosis Menveo® eine vergleichbare Immunantwort wie mit Menactra® erreicht werden.(9) Ebenfalls bei Kindern zwischen 2 und 10 wurde mit einer Dosis Menveo® eine mindestens ebenbürtige Immunantwort wie mit dem Polysaccharid-Impfstoff Menomune® erreicht.(10)
 
Die Dauer der protektiven Wirkung von Menveo® ist unklar. In einer Nachuntersuchung wurde die bakterizide Aktivität des Serums bei Jugendlichen gemessen. Gemäss diesem Test hatten noch 62 bis 84% der Geimpften 22 Monate nach einer Impfung mit Menveo® eine genügende Immunität gegen die Serotypen C, W und Y, während gegen den Serotyp A nur noch bei 36% eine Immunität bestand.(11) Daten zur Immunogenität von Menveo® bei Personen mit gestörter Immunabwehr liegen keine vor.

Unerwünschte Wirkungen

Gemäss den von der Herstellerfirma zusammengefassten Daten aus mehreren Studien verspüren 41% der Geimpften Schmerzen an der Injektionsstelle, 30% Kopfschmerzen, 18% Muskelschmerzen, 16% ein allgemeines Unwohlsein sowie 10% Übelkeit. Die gleichzeitige Verabreichung von Menveo® und anderen üblichen Impfstoffen (Tetanus, Diphtherie, Pertussis, HPV) scheint die Immunantwort auf diese Impfungen nicht relevant zu beeinträchtigen.(12) Personen mit einer Allergie gegen das Trägerprotein (Diphtherietoxoid CRM197) sollen nicht geimpft werden. Da keine entsprechenden Daten vorhanden sind, sollen schwangere und stillende Frauen nicht geimpft werden.

Dosierung, Verabreichung, Kosten

Der Impfstoff MCV-ACWY (Menveo®), geliefert als Lyo­philisat (Serotyp-A-Komponente) und den in einer Injek­tionslösung enthaltenen übrigen Komponenten, muss vor der Anwendung rekonstituiert werden. Die Impfung erfolgt intramuskulär in den M. deltoideus.

Das schweizerische Bundesamt für Gesundheit (BAG) empfiehlt die folgenden Anwendungen:(2)

Erhöhtes Expositionsrisiko (z.B. Reisende in Endemiegebiete, Laborpersonal): Ab einem Alter von 12 Monaten Grundimmunisierung mit einer einzigen Dosis Menveo®. Wer bereits vorher mit einem Polysaccharidimpfstoff (Mencevax®) geimpft worden ist, soll bei einer Auffrischimpfung einmalig ebenfalls Menveo® erhalten.

Erhöhtes Risiko einer invasiven Meningokokken-Erkrankung (immungeschwächte Personen z.B. mit Asplenie, Komplementmangel-Syndrom, HIV): Eine Grundimmunisierung soll möglichst früh erfolgen. Säuglinge werden wie bisher dreimal mit einem monovalenten MCV-C Impfstoff immunisiert und erhalten erst ab dem Alter von 12 Monaten zwei Auffrischimpfungen Menveo® im Abstand von 4 bis 8 Wochen.

Auffrischimpfungen bei Personen, die bereits ein- oder zweimal Menveo® erhalten haben: In diesen Fällen soll immer der kostengünstigere Polysaccharid-Impfstoff Mencevax® verwendet werden.

Postexpositionelle Prophylaxe bei Kontakt mit einem wahrscheinlichen IME-Fall: Das BAG empfiehlt, eine Impfung «aufgrund der spezifischen epidemiologischen und klinischen Umstände» anzubieten. Wichtig ist aber in erster Linie eine sofortige medikamentöse Chemoprophylaxe mit Rifampicin (Rimactan® u.a.) oder – bei Erwachsenen – mit Ciprofloxacin (Ciproxin® u.a.). Auch früher geimpfte Personen sollen eine Chemoprophylaxe erhalten. Da der Impfschutz frühestens 15 Tage nach einer Impfung besteht, kann eine Impfung höchstens sekundäre Fälle verhindern.

Die Empfehlungen des BAG weichen insofern von der Beurteilung der Swissmedic ab, als letztere zur Zeit «die Wirksamkeit, Sicherheit und Verträglichkeit» des Präparates bei Kindern unter 11 Jahren als nicht belegt ansieht. In den USA ist Menveo® zur Anwendung ab 2 Jahren zugelassen. 
 
Eine Dosis Menveo® kostet CHF 80.10 (Publikumspreis); das Präparat ist zur Zeit noch nicht kassenzulässig. Eine Dosis des Polysaccharid-Impfstoffs Mencevax® kostet CHF 43.20.

Kommentar

Der Konjugat-Impfstoff Menveo® ist zwar nicht mit dem in der Schweiz erhältlichen Polysaccharid-Impfstoff Mencevax® verglichen worden. Die vorliegenden Studienresultate lassen jedoch vermuten, dass der neue Impfstoff eine ähnliche Immunogenität und Verträglichkeit aufweist.

Für eine Verwendung von Menveo® statt des billigeren Mencevax® spricht in erster Linie, dass der Konjugat-Impfstoff im Gegensatz zum Polysaccharid-Impfstoff auch bei Kleinkindern immunogen ist. Direkte Vergleichsstudien fehlen allerdings. Bei Jugendlichen und Erwachsenen ist der Konjugat-Impfstoff dem Polysaccharid-Impfstoff nicht überlegen.

Andere Argumente für die Verwendung des Konjugat-Impfstoffs als ergänzende Impfung sind weniger stichhaltig. So lässt sich mit dem Konjugat-Impfstoff zwar eine T-Zell-vermittelte Immunantwort und ein immunologisches Gedächtnis aufbauen. Eine IME kann sich jedoch so rasch entwickeln, dass die Zeit nicht ausreicht, um entsprechende Antikörper zu produzieren. Konjugat-Impfstoffe reduzieren auch eine nasopharyngeale Besiedelung mit Meningokokken; dadurch könnten Ungeimpfte geschützt werden. Die Entwicklung einer Herdimmunität ist jedoch im Rahmen einer ergänzenden Impfstrategie kaum möglich und deshalb irrelevant. Wieweit der sogenannten Hyporeaktivität nach wiederholter Applikation eines Polysaccharid-Impfstoffs klinische Relevanz zukommt, ist unklar.

In der Schweiz wird MCV-ACWY nur als Impfung für einen engen Personenkreis mit erhöhtem Risiko empfohlen. Reisende müssen auch wissen, dass der Schutz gegen die im Sahelgebiet hauptsächlich vorkommenden Meningokokken der Serogruppe A nicht von langer Dauer ist. Einen Beitrag zu einem wirklichen Durchbruch bei der Prophylaxe der IME in Europa und Nordamerika wird erst ein Impfstoff bringen, der auch gegen die Serogruppe B schützt. Die Entwicklung eines entsprechenden Impfstoffs ist im Gange.

Standpunkte und Meinungen

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Quadrivalenter Konjugat- Meningokokken-Impfstoff (19. Januar 2012)
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pharma-kritik, 33/No. 6
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