Exenatid-Retardpräparat

Unter dem Namen Bydureon® ist ein retardiertes Exenatidpräparat zur einmal-wöchentlichen Injektion eingeführt worden. Wie das nicht-retardierte Exenatid (Byetta®) ist es im Rahmen einer Kombinationstherapie zur Behandlung des Typ-2-Diabetes zugelassen.

Chemie/Pharmakologie

Exenatid ist eines der beiden aktuell erhältlichen Inkretinmimetika – das andere ist Liraglutid (Victoza®).(1,2) Inkretinmimetika sind Polypeptide, die sich wie das menschliche Glukagon-ähnliche Typ-1-Peptid («glucagon-like peptide 1», GLP-1) an GLP-1-Rezeptoren im Pankreas binden. Sie werden deshalb auch als GLP-1-Rezeptoragonisten bezeichnet. Inkretinmimetika regen die Insulinsekretion an und reduzieren die Glukagonsekretion. Ausserdem führen sie zu einem verstärkten Sättigungsgefühl und verlangsamen die Magenentleerung. Bei Diabeteskranken bewirken diese Medikamente eine Senkung der Blutzuckerwerte (nüchtern und postprandial).

Die Retardierung im neu eingeführten Präparat beruht auf der Verkapselung der Wirksubstanz in biologisch abbaubaren polymeren «Mikrosphären».

Pharmakokinetik

Nach der subkutanen Injektion des Exenatid-Retardpräparates werden die Mikrosphären mit dem Wirkstoff allmählich abgebaut, was zu einer ständigen Freisetzung von Exenatid in die Blutbahn führt.(3) Es ergibt sich ein mehrphasisches Konzentrationsprofil; von der Mikrosphären-Oberfläche abgegebenes Exenatid bewirkt einen maximalen Plasmaspiegel nach etwa 2 Wochen und der Abbau der Mikrosphären führt später, nach 6 bis 7 Wochen, zu einem weiteren Spitzenspiegel. Werden jede Woche 2 mg retardiertes Exenatid injiziert, so wird nach 6 bis 7 Wochen ein Fliessgleichgewicht mit Plasmaspiegeln um 300 pg/ml erreicht. Dies entspricht ungefähr der Spitzenkonzentration, die nach einer einzelnen Injektion von 10 mcg nicht-retardiertem Exenatid gemessen wird.  Exenatid wird nicht metabolisiert; die Ausscheidung erfolgt über die Nieren, vorwiegend mittels glomerulärer Filtration. Die scheinbare Plasmahalbwertszeit des retardierten Präparates beträgt etwa 2 Wochen; nach dem Absetzen des Medikamentes dauert es etwa 10 Wochen, bis im Blut kein Exenatid mehr nachweisbar ist.(3)

Klinische Studien

Die Wirksamkeit des Exenatid-Retardpräparates wurde im sogen. DURATION-Studienprogramm dokumentiert. Dieses Programm umfasst sechs randomisierte Studien, in denen die einmal-wöchentliche Exenatid-Injektion (2 mg retard) mit anderen medikamentösen Therapien verglichen wurde. In diesen Studien wurden Personen behandelt, die bereits eine Diabetes-Grundbehandlung (Diät + körperliche Aktivität, teilweise auch mit vorbestehender medikamentöser Therapie) erhielten sowie ein HbA1c zwischen 7,1 und 11% und ein stabiles Körpergewicht mit einem BMI zwischen 25 und 45 kg/m2 hatten.

Zwei offene Vergleiche (DURATION-1 und DURATION-5) des Retardpräparates mit nicht-retardiertem Exenatid (2-mal täglich 10 mcg) dauerten 30 bzw. 24 Wochen. Insgesamt 547 Personen, die zu über 80% bereits mit Metformin (Glucophage® u.a.) und/oder einem Sulfonylharnstoff oder Pioglitazon (Actos® u.a.) behandelt waren, nahmen daran teil.  Das Retardpräparat ergab bezüglich HbA1c das bessere Resultat: das HbA1c nahm um 1,9% bzw. 1,6% ab, unter dem nicht-retardierten Exenatid nur um 1,5% bzw. 0,9%.(4,5)

In einer Doppelblindstudie wurde das Retardpräparat während 26 Wochen mit Sitagliptin (Januvia®, Xelevia®) und Pioglitazon verglichen (DURATION-2). 491 Personen, deren Diabetes mit Metformin allein ungenügend behandelt war, nahmen daran teil. Unter Exenatid-retard nahm das HbA1c um 1,5% ab, signifikant mehr als unter Pioglitazon (minus 1,2%) und unter Sitagliptin (minus 0,9%). Während das Körpergewicht unter Exenatid-retard um 2,3 kg abnahm, nahm es unter Pioglitazon um 2,8 kg zu.(6)

In einer weiteren Doppelblindstudie wurde Exenatid-retard als initiale Monotherapie gegen Metformin (2500 mg/Tag), Pioglitazon (45 mg/Tag) und Sitagliptin (100 mg/Tag) getestet (DURATION-4). Nach 26 Wochen waren Exena­tid-retard, Metformin und Pioglitazon bezüglich HbA1c ungefähr gleichwertig.(7)

Zwei offene (aber randomisierte) Studien dienten dem Vergleich mit injizierbaren Antidiabetika:  In DURATION-3 erhielten 456 Personen, deren Diabetes mit Metformin oder einer Metformin/Sulfonylharnstoff-Kombination nicht unter Kontrolle war, für 26 Wochen Exenatid-retard oder individuell dosiertes Insulin-Glargin (Lantus®). Mit Exenatid-retard liess sich das HbA1C etwas besser senken (um 1,5% gegenüber 1,3%). Mit Insulin Behandelte nahmen im Durchschnitt 1,4 kg zu, während diejenigen unter Exenatid abnahmen.(8) In DURATION-6 wurde Exenatid-retard mit Liraglutid (1,8 mg/Tag) verglichen. 911 Diabeteskranke, deren Stoffwechsellage trotz Behandlung mit Metformin, einem Sulfonylharnstoff oder Pioglitazon unbefriedigend war, wurden während 26 Wochen behandelt. Liraglutid hatte die überlegene Wirkung: das HbA1c nahm unter Exena­tid-retard um 1,3%, unter Liraglutid um 1,5% ab. Auch die Gewichtsabnahme war unter Liraglutid deutlich grösser (3,6 kg) als unter Exenatid (2,7 kg).(9)

Der Prozentsatz der Personen, bei denen das HbA1c mit Exenatid-retard unter 7% gesenkt wurde, beträgt etwa 50 bis 60%. In allen diesen Studien wurde unter Exenatid auch eine leichte Senkung des Blutdrucks beobachtet. Nach mehreren Studien wurde die Behandlung weitergeführt; die anfänglich mit Exenatid-retard erreichten Verbesserungen blieben über 2 bis 3 Jahre weitgehend erhalten.(9)

Zu Exenatid liegen bisher keine Studien mit klinischen Endpunkten (z.B. kardiovaskulärer Natur) vor.

Unerwünschte Wirkungen

Gastro-intestinale Symptome werden bei über einem Drittel der Behandelten beobachtet und sind besonders in den ersten Behandlungswochen häufig. In einzelnen Studien klagten mehr als 25% über Brechreiz; unter nicht-retardiertem Exenatid und Liraglutid sind Brechreiz und Erbrechen aber häufiger.(9) Auch Durchfall kommt bei mehr als 10% vor.

Bei mehr als 10% werden ferner lokale Reaktionen (Knötchen) an der Injektionsstelle festgestellt; dabei handelt es sich oft um subkutane Knötchen, die teilweise monatelang bestehen bleiben.  Wenig symptomatische Hypoglykämien unter einer Exenatid-Monotherapie werden von rund 5% der Behandelten beobachtet; bei der Kombination mit Sulfonamiden ist das Hypoglykämie-Risiko grösser.  Ein Teil der Behandelten bildet Antikörper gegen Exenatid; diese scheinen die Wirksamkeit des Mittels meistens nicht relevant zu beeinträchtigen.

In den Studien wurde die Behandlung allgemein in den Exenatid-Gruppen häufiger abgebrochen als in den Vergleichsgruppen, allerdings nur zum Teil wegen unerwünschten Wirkungen.

In den letzten Jahren sind relativ viele Berichte bekannt geworden über Pankreatitis-Fälle bei Personen, die Exenatid erhielten. Ob dies – im Vergleich mit anderen Diabeteskranken – auch einer echten Häufung von Pankreatitis entspricht, ist bisher nicht adäquat untersucht worden.  Selten wurde auch über Pankreaskarzinome und Nierenversagen berichtet. Da C-Zell-Hyperplasien in der Rattenschilddrüse aufgetreten sind, wird in den USA vor einem möglichen C-Zell-Tumor der Schilddrüse gewarnt.

Interaktionen

Die Exenatid-Wirkung auf die Magenmotilität kann allenfalls die Geschwindigkeit und das Ausmass der Resorption anderer Medikamente beeinträchtigen. Exenatid kann das Hypoglykämie-Risiko von Insulin und von Sulfonylharnstoffen erhöhen. Bei gleichzeitiger Verabreichung von oralen Antikoagulantien ist in einigen Fällen ein Anstieg der INR festgestellt worden.

Dosierung, Verabreichung, Kosten

Das Exenatid-Retardpräparat (Bydureon®) ist in der Dosis von 2 mg als Pulver in einer Durchstechflasche erhältlich; die mitgelieferte Spritze enthält das Lösungsmittel zur Herstellung der Injektionslösung. Nach dem Mischen soll das Präparat sogleich verwendet werden. Exenatid-retard (2 mg) wird einmal wöchentlich subkutan injiziert. Es ist zur Kombinationstherapie bei Personen mit Typ-2-Diabetes zugelassen, sofern bei diesen mit einer Monotherapie (Metformin, Sulfonylharnstoff oder Pioglitazon) oder einer Zweierkombination (Metformin + eines der beiden anderen Antidiabetika) keine zufriedenstellende Blutzuckerkontrolle erreicht wird.  Es soll nicht mit Insulin kombiniert werden.

Das Medikament ist in der Schwangerschaft und Stillzeit kontraindiziert. Falls eine Schwangerschaft gewünscht wird, soll Exenatid-retard wenigstens 3 Moante vorher abgesetzt werden.  Bei Personen unter 18 Jahren soll das Präparat nicht verwendet werden, da es bisher in dieser Altersgruppe nicht untersucht worden ist. Bei eingeschränkter Nierenfunktion besteht ein erhöhtes Nebenwirkungsrisiko; Personen mit einer Kreatininclearance unter 30 ml/min sollen kein Exenatid erhalten.  

Exenatid-retard (Bydureon®) ist in der Schweiz kassenzulässig; die Behandlung kostet CHF 151.40 pro 4 Wochen. Das nicht-retardierte Exenatid ist praktisch gleich teuer, Liraglutid wenig teurer (CHF 172.10 für 60 Dosen zu 0,6 mg). Andere Antidiabetika sind viel billiger; z.B. kostet Metformin (als Generikum, 2 g/Tag) rund 13 Franken monatlich.

Kommentar

Ein Medikament, das nur einmal wöchentlich verabreicht werden muss, ist praktisch. Anderseits hat ein Medikament, das mindestens 10 Wochen im Körper verweilt, auch ein erhöhtes Potential für längerfristige Probleme. Viel wichtiger ist aber die Tatsache, dass wir zur Zeit einfach noch nicht wissen, ob Inkretinmimetika (Exenatid, Liraglutid) ein vorteilhaftes Nutzen/Risiko-Verhältnis aufweisen. Lassen wir uns nicht von der (gut dokumentierten) Wirkung auf das HbA1c blenden. Wir müssen wissen, ob diese Medikamente die Komplikationen eines Typ-2-Diabetes reduzieren. Ebenso bedeutsam ist es, dass Vergleichsstudien zur Inzidenz von Pankreatitis und anderen unerwünschten Ereignissen durchgeführt werden. Aus meiner Sicht ist es ratsam abzuwarten, bis entsprechende Daten vorliegen.

Standpunkte und Meinungen

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Exenatid-Retardpräparat (5. Juli 2012)
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pharma-kritik, 34/No. 3
PK874
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