Medikamentenpreise - Hoffnungslos? Eine Replik!

Vorbemerkung der pharma-kritik-Redaktion

Der folgende Text wurde uns von Dr.med. Elisabeth I. Minder (Zürich) zur Publikation zugestellt. Der Text wird ohne jede formale oder inhaltliche Änderung oder Überprüfung wiedergegeben – das heisst, es handelt sich nicht um einen pharma-kritik-Text, sondern um die persönliche Stellungnahme von Dr. Minder.

  

Medikamentenpreise – Hoffnungslos? Eine Replik!

Arzneimittel sind für den Internisten dasselbe wie das Skalpell für den Chirurgen – das Instrument mit dem wir versuchen unseren Patienten zu helfen und - wenn es geht – sie zu heilen. Niemand würde auf die Idee kommen, den Chirurgen zu zwingen ein stumpfes statt ein scharfes Skalpell für eine Operation zu verwenden. Ähnlich sollte kein Internist gezwungen werden, ein ungenügend wirksames oder mit hohen Nebenwirkungen belastetes Arzneimittel zu verwenden, wenn ein besseres verfügbar ist 1. Während die technische Entwicklung in den operativen und invasiven Fächern bewundert und die damit verbundene Kostensteigerung akzeptiert ist, wird die ähnlich stürmische Entwicklung in der Arzneimittelherstellung weltweit äusserst skeptisch und kritisch beurteilt. Falls diese Kritik ausartet und die Pharma-Industrie keine Kosten-deckende Vergütung mehr erhält, kann die Versorgung mit Arzneimitteln gefährdet werden 2. M.E. könnten die in letzter Zeit immer wieder auftretenden Engpässe an lebenswichtigen Medikamenten nicht zuletzt auf die rigorosen Kostenkontrollen in der Pharma-Industrie zurückgeführt werden. Bildlich gesprochen besteht das Risiko für uns Internisten, dass wir vermehrt stumpfe statt scharfe Skalpelle für die Behandlung zur Verfügung haben werden.

Ist die Entwicklung der Arzneimittelkosten in der Schweiz wirklich hoffnungslos ? 3

Die Gesamt-Kosten des Schweizerischen Gesundheitswesens betrugen im Jahre 2015 77.8 Milliarden CHF4 und machten im Jahre 2014 über 11% des Brutto-Inlandproduktes (BIP) aus. Dieser Wert war der zweithöchste weltweit und wurde nur noch durch die USA übertroffen (16.6%). Der Anteil der Arzneimittelkosten an den Gesamtkosten im Jahre 2014 betrug 8.9%. Wie hat sich dieser Anteil im Laufe der letzten Jahrzehnte verändert? Das lässt sich aus den Kosten-Veränderungen der „Gesundheitsgüter“ ablesen, da Arzneimittel keinen eigenen Posten in den früheren Statistiken fanden:

Der Anteil der Kosten für Gesundheitsgüter (Arzneimittelkosten und medizinische Apparate) sank von 24.4% der gesamten Gesundheitskosten im Jahre 1966 auf 10.6% im Jahre 20135. Teuerungsbereinigt haben die Kosten der Gesundheitsgüter (Arzneimittelkosten und medizinische Apparate) zwischen 1960 und 2014 auf 382% des Ausgangswertes zugenommen, während die Verwaltungs- und Präventionskosten auf 1654% und die stationäre Spitalbehandlung auf 1115% zugenommen haben. Leider sind in den Schweizer Statistiken Arzneimittelkosten der stationären und ambulanten Spitalbehandlung nicht unter der Rubrik Arzneimittel bzw. Gesundheitsgüter enthalten, was die Zahlen etwas relativiert.

In einem eher reisserischen Titel eines Artikels in der Sonntagszeitung wurde behauptet, dass die Arzneimittel einen Drittel der Grundversicherungsprämien „verschlingen“ 6. Im zugehörigen Text wurde allerdings eine Schätzung 6.3 Mia entsprechend 21.9 % der Prämien und eine zusätzliche Mia für den stationären und ambulanten Spitalsektor publiziert 6. Aufgrund der aufgeführten Zahlen kommen wir auf 25.4% [in Mia CHF: 100*0.219*(6.3+1)/6.3], was einem Viertel und nicht einem Drittel der Grundversicherungsprämien entspricht. Die Krankenkasse Mutuel publizierte für das Jahr 2013 einen Betrag von 5 Milliarden CHF zu Lasten der obligatorischen Krankenversicherung 7.

Im Gegensatz zu den Gesamt-Gesundheitskosten, die wie oben erwähnt, einen vergleichsweise hohen BIP Anteil ausmachen, liegen die Arzneimittelkosten in der Schweiz mit 1.0% des BIP im internationalen Vergleich relativ tief. Einzig die Niederlande weist noch einen tieferen Betrag von 0.8% auf, während Österreich (1.2%), Italien (1.3%), Frankreich (1.5%), Deutschland (1.6%), oder die USA (2.0%) einen deutlich höheren Anteil aufweisen 8. In Bezug auf die pro Kopf-Ausgaben, sind die Arzneimittelkosten in Deutschland, Kanada, Griechenland, Japan und den USA höher als in der Schweiz, diejenigen in Frankreich, Italien und Österreich tiefer 6.

Die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit von Arzneimitteln und damit die Festlegung von Arzneimittelpreisen erfolgt in der Schweiz nach Artikel 34 KVL, wobei

(1) der Fabrikabgabepreis im Ausland (Deutschland, Dänemark, Grossbritannien, Niederlande, Frankreich und Österreich),

(2) die Wirksamkeit im Verhältnis zu anderen Arzneimittel gleicher Indikation oder ähnlicher Wirkungsweise,

(3) die Kosten pro Tag oder Kur im Verhältnis zu den Kosten von Arzneimitteln gleicher Indikation oder ähnlicher Wirkungsweise und

(4) ein Innovationszuschlag - falls gegeben - berücksichtigt werden.

Der Fabrikabgabepreis im Ausland ist dabei die wichtigste Komponente. Da andere Länder sich ebenfalls bei der Preisberechnung auf den Fabrikabgabepreis im jeweiligen Ausland beziehen, resultiert von dieser Bestimmung ein Zirkelschluss, da im Kreise herum Bezug genommen wird. Daraus entstehen interessante Konstellationen, die sowohl von Behördenseite wie auch von der Pharmaseite beansprucht werden und die nicht gerade Transparenz-fördernd auf die effektiven Arzneimittel-Kosten sind. Mehr darf ich aus Vertraulichkeitsverpflichtungen gegenüber Behörden dazu nicht sagen.

Zusammengefasst lässt sich festhalten: Der Anteil der Arzneimittelkosten an den gesamten Gesundheitsausgaben in der Schweiz ist in den letzten Jahrzehnten deutlich rückläufig und im Vergleich zum Ausland und in Bezug auf das BIP eher tief. Die Transparenz bei der internationalen Preisfestlegung ist ungenügend und teilweise wohl irreführend.

Arzneimittelkosten bei seltenen Krankheiten (Orphan Drugs):

Skandalöse Preissteigerungen für die Behandlung seltener Krankheiten wurden in letzter Zeit aus den USA gemeldet. Dabei waren seit Jahrzehnten verwendete günstige Arzneimittel, für die es keine Alternativen gibt, betroffen. In den USA gibt es keine staatliche Preiskontrolle, was solche Machenschaften ermöglicht. Der von E. Gysling genannte Martin Shkreli 9 ist nur einer von mehreren, die dieses „Businessmodell“ anwandten 10. Shkreli hatte ursprünglich in der Finanzindustrie gearbeitet und einen eigenen Hedgefonds gegründet, der vorerst mit grossen Lorbeeren bedacht wurde. Seine Masche war einfach: er veröffentlichte negative Berichte über kleine, wenig kapitalisierte Pharmafirmen und spekulierte gleichzeitig auf deren Kurszerfall. Er schreckte selbst nicht davor zurück, beim FDA Klage gegen ein Arzneimittel zu erheben, worauf das FDA die kurz bevorstehende Zulassung zurückstellte, später aber erteilte. Vermutlich weil sein Hedgefonds zusammenbrach, gründete er die Biotech-Firma Retrophin, wo er Lizenzen für mehrere, seit Jahrzehnten eingeführte Orphan Drugs kaufte, z.B. Thiola gegen Zystin-Nierensteine bei Cystinose. Die Preise dafür hob er jeweils 50 oder 100-fach an, sodass die Jahresbehandlungskosten jeweils deutlich über $ 100‘000 lagen. Im Jahre 2014, kurz vor der Zulassung von Scenesse (s. unten) versuchte er eine feindliche, aber erfolglose Übernahme der Herstellerfirma von Scenesse. Kurz danach wurde er vom Verwaltungsrat von Retrophin wegen Unregelmässigkeiten entlassen und gründete die neue Biotechfirma „Turing“ mit Sitz in Zug, Schweiz, wofür er die Lizenz von Daraprim kaufte und den Preis dafür in den USA ebenfalls wieder exzessiv anhob. Die Machenschaften von Shkreli und Konsorten, Lizenzen für seit Jahrzehnten bewährter Arzneimittel ohne Konkurrenzprodukte aufzukaufen und durch Preis-Exzesse ungerechtfertigt hohe Gewinne zu generieren, liess die ganze Pharmabranche ins Zwielicht geraten, weshalb sich die amerikanische Pharma-Vereinigung kürzlich entschlossen hat, solche Firmen aus ihrem Verband auszuschliessen 10. Der Unterschied dieser rein Gewinn-getriebenen Firmen im Vergleich zu innovativen Biotechfirmen ist, dass solche Firmen keinerlei Forschungs- und Entwicklungsarbeiten leisten, sondern in ihren Verhalten spekulativen Finanzinstituten gleichen.

Basierend auf solchen und ähnlichen Einzelfällen, gelten die Kosten von Orphan Drugs als überhöht und für das Gesundheitswesen langfristig nicht tragbar. Neuere Studien aus dem europäischen Umfeld widersprechen dieser Annahme eines überproportionalen Kostenanstiegs und sie prognostizieren, dass die Kosten für Orphan Drugs sich ungefähr bei 4% der gesamten Arzneimittelkosten einpendeln und längerfristig nicht stärker als der allgemeine Arzneimittelmarkt wachsen11. Bedingt ist dieses prognostizierte Stagnieren durch die tiefe Rate an Marktzulassungen und den Ersatz der patentierten Substanzen durch Generika.

Nun hat Herr Gysling sich nicht auf die generellen Gesundheitskosten von Arzneimitteln für seltene Krankheiten, sondern auf den Preis eines Arzneimittels mit dem Namen Scenesse (Afamelanotid) für die ultra-seltene Krankheit erythropoietische Protoporphyrie (EPP) bezogen. Ultra-seltene Krankheiten betreffen weniger als 1 Individuum auf 50‘000 Einwohner und die EPP betrifft weniger als 1 Individuum auf 100‘000 Einwohner oder 75 Personen in der Schweiz. Arzneimittel für seltene (weniger als 1 auf 2000 Einwohner) und ultra-seltene Krankheiten sind bekanntermassen teuer, und besonders bei letzteren sind Jahresbehandlungskosten von über 100‘000 CHF die Regel 7,12,13. Bei ultra-seltenen Krankheiten wurde mehrfach beschrieben, dass die Jahresbehandlungskosten eine exponentiell-inverse Korrelation mit der Häufigkeit besteht, d.h. je seltener eine Krankheit desto überproportional höher sind die Jahresbehandlungskosten 12,13. Eine solche Kurve lässt sich durch die Annahme erklären, dass der variable Anteil der Kosten einen immer kleineren Anteil am Arzneimittelpreis hat, während der Fixkostenanteil relativ zunimmt, je seltener die Krankheit ist. Der variable Teil der Kosten besteht z.B. aus den Produktionskosten des Arzneimittels, während die Fixanteile z.B. die regulatorischen Auflagen durch die Aufsichtsbehörden darstellen. Produktionskosten im Bereich biotechnische Arzneimittel betragen um die 20% der Gesamtkosten. Falls die Kosten von Arzneimitteln für seltene Krankheiten gesenkt werden sollten, wäre eine Reduktion beim grössten Kostenblock, also den Fixkosten, am effektivsten, z.B. indem die Nutzen-Kosten-Profile der regulatorischen Kosten hinterfragt werden. Diese regulatorischen Kosten können nur von den Aufsichtsbehörden, nicht aber von der Pharmafirma beeinflusst werden.

Die European Medicines Agency (EMA) hat in den letzten Jahren anlässlich der Zulassung von Orphan Drugs häufig post-authorization safety studies (PASS) oder post-authorization safety efficacy studies (PAESS) vorgeschrieben.

Sicher sind sorgfältige Sicherheitsüberprüfungen auch nach Markteinführung eines Medikamentes für eine seltene Krankheit eine Notwendigkeit, da die jeweiligen Studienpopulationen klein und die Erfahrung mit dem neuen Arzneimittel beschränkt sind. Die Kosten für diese PASS oder PAESS beeinflussen jedoch direkt die Jahresbehandlungskosten, während die Entwicklungskosten der Arzneimittel nicht direkt in die Kostenrechnung eingehen. Die PAESS sind aber zwingend open-label und nicht randomisierte Studien, was ihren wissenschaftlichen Wert, und daher auch das Nutzen-Kosten-Profil erheblich negativ beeinflusst. Entsprechend ist die Publikationsrate solcher Studien extrem tief. Nach unseren Recherchen im April 2017 wurde nur eine einzige Publikation von 84 beendeten PASS/PEASS als publiziert gemeldet. Da jede PASS oder PAESS mehrere 10 Mio. EUR verschlingt, lässt sich leicht abschätzen, welchen Einfluss solche Studienauflagen auf den kommerziellen Preis haben, wenn bei seltenen Krankheiten nur wenige hundert Personen in Europa mit einem solchen Medikament behandelt werden können. So würden bei 20 Mio. Studienkosten pro Jahr und 500 Behandelten 40‘000 EUR Jahreskosten pro Patient nur für die Post-Authorization Studie anfallen.

Die Geschichte von Scenesse:

Scenesse wurde weltweit zum ersten Mal in der Schweiz bei EPP angewendet in einer Phase II Studie im Jahre 2006 14. 2007/8 folgte eine Phase III Studie. Zwischen 2008 und 2012 hat die Firma das Medikament für Schweizer Studienteilnehmer gratis zur Verfügung gestellt. Die Schweizer Patienten haben mehr Scenesse gratis erhalten als irgendein anderes Land. So mussten die italienischen Behörden bereits seit 2009 für Scenesse bezahlen. Da zu diesem frühen Zeitpunkt und in Unkenntnis der regulatorischen Auflagen nach der Marktzulassung keine Berechnung eines kommerziellen Preises möglich war, beruhte unseres Wissens der damalige Preis auf den reinen Produktionskosten und diese sind, wie wir oben gesehen haben, nur 20% der gesamten kommerziellen Kosten. 2012 erklärte uns die Firma, dass sie die finanzielle Last für eine weitere Gratisbehandlung in der Schweiz nicht mehr übernehmen könne und bot uns das Medikament zum selben Preis wie in Italien an, d.h. zu den Produktionskosten. Die meisten Krankenkassen ausser einer gewährten uns Kostengutsprachen nach KVV Art. 71 und wir konnten fast alle Schweizer EPP-Patienten behandeln, die es wünschten15.

Die Zulassung in Europa fand Ende 2014 statt, jedoch war das Medikament vorerst nicht verfügbar, denn die EMA verlangte eine PAESS, die zuerst geplant werden und die Genehmigung der EMA erhalten musste. Diese Genehmigung fand verzögert mehr als 1.5 Jahren nach Zulassung statt und erst auf Druck der Patientenorganisationen, die - nach zahlreichen fruchtlosen Versuchen auf anderem Wege eine Lösung zu erwirken - eine Demonstration in England vor dem EMA-Gebäude organisierten. Die Kosten dieser PAESS und der weiteren von der EMA verlangten Auflagen fliessen wie oben erwähnt als Aufwand in die Jahresbehandlungskosten von Scenesse ein. Es ist gängige Praxis, dass die Regulationsbehörden für solche Studien den Beizug von kostenintensiven Consulting-Firmen fordern, die gemäss unseren Recherchen häufig von ehemaligen EMA Mitarbeitern geführt werden. Es entzieht sich unserer Kenntnis, ob dies auch für die PAESS von Scenesse gilt und ob auch für solche Auflagen eine fehlende Sensitivität, Interessenkonflikte zu erkennen, vorliegen könnte, was EMA-Vertretern in den letzten Jahren in anderem Zusammenhang mehrfach vorgeworfen wurde 15.

Die für Scenesse verlangte Efficacy-Studie ist dokumentatorisch äusserst aufwendig und die Daten müssen von den Behandlungszentren in einem speziell erschaffenen elektronischen Register erfasst werden, was eine entsprechende Vergütung durch den Hersteller von Scenesse bedingt – alles Kosten, die auf die Jahres-Behandlungskosten überwälzt werden müssen. Der wissenschaftliche Wert dieser Studie, bei fast oder gar nicht existenter Kontrollpopulation und fehlender Randomisierung ist voraussichtlich marginal, im Besonderen in Anbetracht, dass die Wirksamkeit von Scenesse bereits in kontrollierten und randomisierten Studien nachgewiesen wurde17 und eine langfristige open-label Studie ebenfalls publiziert wurde 15. Wir fragen uns daher, ob die regulatorische Auflage für diese vermutlich mehrere 10 Mio EUR teure Studie einer objektiven Nutzen-Kosten Analyse standhalten würde. Leider gibt es kein Kontroll-Gremium, das dafür zuständig ist.

Andere regulatorische Auflagen wie eine sorgfältige Dokumentation von Nebenwirkungen und die Entwicklung einer Dosierung für Kinder betrachten wir dagegen als wichtig und notwendig. Aber auch diese Auflagen bewirken einen Anstieg der Kosten von Scenesse. Im Übrigen sind die Jahresbehandlungskosten von Scenesse im Vergleich zu anderen ultra-seltenen Krankheiten unterdurchschnittlich, wenn die oben erwähnte inverse Kurve für Jahresbehandlungskosten bei ultra-seltenen Krankheiten13 angewendet wird. Die Behauptung, dass die Firma ihre Monopolstellung ausnützt, lässt sich schon durch einen Blick auf die publizierte Jahres-Rechnung der Firma widerlegen, denn sie schreibt auch im letzten Geschäftsjahr per 30. Juni 2016 – fast 2 Jahre nach Marktzulassung - ein Defizit von ca. 49% des Umsatzes und weist für Ende 2016 weiterhin einen Verlust aus18. Die Schiedsstelle der Deutschen Krankenkassen hat den Vergütungsbetrag für Scenesse zu 85% der beantragten Summe festgelegt, was einen einmaligen Entscheid zugunsten der beantragenden Pharmafirma in der Historie der Schiedsstelle darstellt und den Vorwurf des Ausnützen der Monopolstellung widerlegt. Im Weiteren verfolgt der Hersteller von Scenesse eine einmalig transparente Preispolitik, indem sie weltweit denselben Preis für das Medikament verlangt ohne Rabatte oder irgendwelche Kick-backs19 und sie erfüllt somit als Ausnahme unter den Pharmafirmen eine Forderung von E. Gysling.

Personen mit seltenen und ultra-seltenen Krankheiten haben ein Recht auf die best-mögliche medizinische Behandlung. Dieses Recht leitet sich aus der Bundesverfassung und dem Diskriminierungsverbot ab und entspricht auch der mehrheitlichen Meinung der Schweizer Bevölkerung 20.

Damit Medikamente in der Schweiz angewandt werden dürfen, müssen sie von der Swissmedic zugelassen werden (Prüfung auf Wirksamkeit und Nutzen/Risikoprofil). Erst die Aufnahme auf die Spezialitätenliste des Bundesamts für Gesundheit erzwingt eine Vergütung durch die soziale Krankenversicherung. Bei Krankheiten, die schwerwiegend sind und bei denen keine alternative Therapie existiert, ermöglicht der Art. 71 des KVV eine Anwendung eines nicht zugelassenen Medikamentes, sofern (1) das Arzneimittel in einem Land mit gleichartiger Zulassungspraxis zugelassen ist und (2) die Krankenkasse einer Kostenübernahme zustimmt. Juristisch gesehen, muss die Kostenübernahme für jeden Patienten einzeln gestellt werden und sie muss von den Kassen individuell beurteilt werden. De Facto entscheiden Kassen für alle ihre Versicherten mit derselben Krankheit und Behandlung gleich. Die Entscheide divergieren allerdings zwischen den Kassen und dies bedeutet eine gravierende Ungerechtigkeit zwischen den Versicherten verschiedener Kassen. Von unserer Patientenorganisation, der Schweizerischen Gesellschaft für Porphyrie, von ProRaris, der Dachorganisation für seltene Krankheiten in der Schweiz, und selbst von der Helsana Krankenkasse wurde eine Schiedsstelle gefordert anlässlich der Vernehmlassung zur Anpassung des Art. 71 des KVV im letzten Herbst, um Behandlungsgerechtigkeit herzustellen. Und Helsana fährt in ihrer Stellungnahme fort: „Es darf nicht sein, dass dem betroffenen Patient/in der Zugang zu einer dringend erforderlichen und wichtigen Therapie verwehrt bleibt, nur weil sich Lieferant und Versicherer nicht über den Preis einigen können.“ Auch Curafutura und Santésuisse haben dasselbe verlangt. Leider sind diese Anregungen nicht in den Text eingeflossen, der am 1. März 2017 in Kraft getreten ist. Die Ungerechtigkeit zwischen Versicherten verschiedener Kassen bleibt demnach bestehen.

Die Behandlung seltener und ultra-seltener Krankheiten gilt, wie oben erwähnt, als sehr teuer. Der Anteil der Arzneimittelkosten für seltene Krankheiten beträgt jedoch nur 0.27% der gesamten Kosten des Gesundheitswesens und er beträgt 3% der gesamten Arzneimittelkosten in der Schweiz, obwohl 7-8% der Bevölkerung an einer seltenen Krankheit leiden7. Somit beanspruchen Personen mit seltenen Krankheiten als Gesamtheit nicht einmal durchschnittliche Medikamentenkosten, woraus gefolgert werden kann, dass Personen, die an einer seltenen Krankheit leiden, in Bezug auf Arzneimittel-Behandlung unterversorgt sind. Häufig gibt es zurzeit keine Behandlungsmöglichkeit. Wie unsere Erfahrung mit Scenesse gezeigt hat, findet aber auch dann keine Vergütung statt, wenn eine erfolgreiche Behandlungsmöglichkeit wissenschaftlich belegt ist. Die Zugänglichkeit zu Arzneimitteln auch für andere seltene Krankheiten wird auf verschiedensten Ebenen mit unverständlichen Hürden behindert gemäss den Rückmeldungen, die wir im Rahmen unserer medialen Auftritte für Scenesse erhalten haben. Personen mit seltenen Krankheiten empfinden daher, dass sie als Patienten zweiter Klasse behandelt werden. Denn „Gesund-Geborene“ haben Anrecht auf eine volle Wiederherstellung ihrer Gesundheit unabhängig von den anfallenden Kosten und selbst wenn sie ihre Gesundheit mutwillig zerstört haben durch Alkohol, Drogen, Risiko-reiches Autofahren, Risikosportarten usf. während Personen, die mit einer schweren, aber seltenen Krankheit geboren wurden, jahrelang um eine nach wissenschaftlichem Kriterien wirksame Therapie gegen ihr Leiden kämpfen müssen.

 

Literaturliste:

1)         Rütsche B. und Wildi A. Limitierung von Arzneimitteln um Krankenversicherungsrecht: Wo wird die Grenze zur Rationierung überschritten? Recht 2016/04: www.walderwyss.com/publications (Zugriff 5. Mai 2017)

2)         https://www.washingtonpost.com/news/in-theory/wp/2017/02/14/why-people-should-be-able-to-buy-drugs-approved-in-other-countries/?utm_term=.91aa330da1fd

3)         Gysling E; Medikamentenpreise – Hoffnungslos? Pharmakritik 2017: 38 (12) 47

4)         Bundesamt für Statistik

5)         Bundesamt für Statistik, zitiert nach Gesundheitswesen Schweiz 2017 (Interpharma)

6)         Sonntagszeitung, 22.11.2015

7)         Login, Medikamente für seltene Krankheiten, Publikation Groupe Mutuel, Januar 2016, S. 7

8)         OECD Health data, Zitiert nach Gesundheitswesen Schweiz 2017 (Interpharma) Stand 2014

9)         Wikipedia: https://en.wikipedia.org/wiki/Martin_Shkreli (Zugriff 10.05.2017)

10)      http://www.fiercepharma.com/pharma/phrma-expected-to-weed-out-some-members-new-r-d-rules-bloomberg ; https://endpts.com/phrma-drums-out-22-members-who-didnt-make-the-cut-as-major-league-rd-players/

11)      Hutchinga A, Schey C. Dutton, R, Achana F., Antonov K; Estimating the budget impact of orphan drugs ind Sweden and France 2013-2020, Orphanet of Rare Disease 9:22-31.

12)      Messori A, Cicchetti A, Patregani L. Orphan drugs. Relating price determination to disease prevalence. BMJ 2010;341:c4615.

13)      Hadjivasiliou A, Urquhart L. Orphan drug report 2015. Evaluate Pharma 2015;2015.

14)      Harms J, Lautenschlager S, Minder CE, Minder EI. An alpha-melanocyte-stimulating hormone analogue in erythropoietic protoporphyria. N Engl J Med 2009;360(3):306-307.

15)      Biolcati G, Marchesini E, Sorge F, Barbieri L, Schneider-Yin X, Minder EI. Long-term observational study of afamelanotide in 115 patients with erythropoietic protoporphyria. Br J Dermatol 2015;172(6):1601-1612.

16)       https://lobbypedia.de/wiki/Europ%C3%A4ische_Arzneimittelagentur
https://corporateeurope.org/revolving-doors/2012/07/better-control-eu-revolving-door-needed

17)      Langendonk JG, Balwani M, Anderson KE et al. Afamelanotide for Erythropoietic Protoporphyria. N Engl J Med 2015;373(1):48-59.

18)      http://clinuvel.com/investors/annual-reports; http://clinuvel.com/investors/financial-overview

19)      http://www.clinuvel.com/clinuvel/corporate-governance (Mitteilung von April 12;  accessed 5. Mai 2017)

20)      Gesundheitsmonitor 2016 gfs.bern. N=1210), Zitiert nach Gesundheitswesen Schweiz 2017

 

Autorin: Elisabeth I. Minder, Stadtspital Triemli, frühere Chefärztin am Institut für Labormedizin (pensioniert), Belegärztin für Porphyriesprechstunde, Birmensdorferstrasse 497, 8063 Zürich; elisabeth.minder@triemli.zuerich.ch

 

Conflict of Interest:

·         Keine finanziellen Interessen oder Beteiligungen an der Firma Clinuvel (Hersteller Scenesse);

·         Zweimal Haupt-Investigator für klinische Studien von Scenesse bei EPP;

·         Expertin von Clinuvel bei Verhandlungen mit EMA (2 Mal), bei den Deutschen Krankenkassen (4 Mal) jeweils ohne Honorar, nur Vergütung von Reise- und Hotelspesen,

·         insgesamt EUR 6000.- Forschungsgelder von Clinuvel seit 2006;

·         Expertin für die Zulassung von Scenesse bei den Behörden EMA, FDA, und dem gemeinsamen Bundesausschuss (Deutschland).

Standpunkte und Meinungen

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Medikamentenpreise - Hoffnungslos? Eine Replik! (19. Mai 2017)
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